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taz FUTURZWEI

Der Bullshit-Wort-Check, Folge 9 „Identität“ und „Die Abgehängten“

Was taugen diese Begriffe für das Verständnis der Gegenwart? taz FUTURZWEI-Gastautorinnen testen Standards des politischen Sprechens. Heute: Christian Schneider und Diana Kinnert.

Erzählungen sind die Motoren der Identitätsstiftung Foto: Vince Fleming/Unsplash

taz FUTURZWEI | In der heutigen Folge unseres „Bullshit-Wort-Checks“: CHRISTIAN SCHNEIDER, Sozialpsychologe und Autor von 'Sahra Wagenknecht. Die Biografie.', stört sich an dem Begriff der „Identität“. DIANA KINNERT, Publizistin und CDU-Mitglied, kritisiert den Stempel der „Abgehängten“.

„Identität“ (Christian Schneider)

Manchmal wird das Leben dadurch leichter, dass sich die Stellvertreter der Dinge, die Wörter, neu ordnen. Wobei es sinnvoll ist, sich über ihre schlichte Grundstruktur, die Wortarten, zu verständigen. Etwa: Ein Befehl ist etwas anderes als ein Lob, ein Geständnis oder eine Liebeserklärung. Eine besondere Stellung kommt dabei den Parolen zu. Parolen sind die gewissermaßen mit einem Ausrufezeichen versehenen Überschriften des alltäglichen Diskurses – und als solche wesentlich Forderungen. Sie sagen, wie es sein soll. Es sind die unauffälligen Befehle des Alltags.

Derzeit erfahren wir allerorten, dass es wesentlich sei, eine »Identität« zu haben. Eine Forderung, die kaum jemals unklarer ließ, was darunter zu verstehen ist. Irgendwie scheint es um Ganzheit zu gehen, um Einverständnis mit sich selbst, um die Möglichkeit, wenigstens konsistent über sich zu reden. Eben darauf basiert der vielfach strapazierte Terminus »Erzählung«. Erzählungen sind die Motoren der Identitätsstiftung, denn sie schaffen Ganzheit, Klarheit, Vollendung. Ihr Grundmodell sind die Märchen, mit denen wir als Kinder vor dem Einschlafen in die Sicherheit einer so zauberhaften wie vermeintlich überschaubaren Welt gewiegt worden sind. Erzählungen haben Anfang, Ende und einen Plot – sie schaffen den Sinn, nach dem wir verlangen.

Was nicht zuletzt der Grundstock aller Geschichtsphilosophie ist: Eine sinnvoll gestaltete Realität zu schaffen, die uns aus dem unüberschaubaren Gewusel rettet, das ringsum und mit uns geschieht.

Erzählungen sind letztendlich Rettungsfantasien, die uns in dem, was wir zu sein meinen, bestätigen. Die unsere »Identität« bestätigen. Genau darüber wird im Zeitalter der Identitätspolitik breitmäulig erzählt. Wenn man das Pech hat, besonders klugen Mäulern zu lauschen, wird man mit dem Wort »Narrativ« beglückt. Narrative sind, kurzgefasst, die Erzählungen derjenigen, die der je eigenen Identität eine Hauptrolle auf der Bühne verschaffen wollen.

Doch letztlich, ach: Kommen wir auf die Wortarten zurück. Parolen, so hörten wir, sind wesentlich Forderungen. Forderungen bedeuten, dass das, was wir uns wünschen, nicht gegeben ist. Und genauso ist es. Weder die schöne geschlossene Erzählung noch die wunderbare, unverwechselbare Identität ist real. Was tun? Weiterreden?

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Zur neuen Ausgabe

„Die Abgehängten“ (Diana Kinnert)

Politik ist nicht das Bekenntnis zu sich selbst, seinen eigenen Werten und Ideen, sondern die Ordnung und Organisation eines bunten Straußes von Bedürfnissen und Willensbekundungen, die auch außerhalb der eigenen Vertretung liegen. Meint man.

Einfacher, auch geläufiger ist heute, sich ausschließlich selbst zum Maß aller Dinge zu nehmen, und das dann Politik zu nennen. Ich progressiv, du nicht. Jeder und jede steht im relativen Abstand zur eigenen Verabsolutierung. Das ist furchtbar genug. Im politischen Gebrauch der Vokabel des Abgehängtseins wird das Normative auch noch von Wahrsagerei ergänzt: Du hast noch nicht geschafft, dort zu sein, wo ich bin, politisch, intellektuell, nämlich vorn. Du hängst meinem Denken nach. Irgendwann kommst du an, wo ich bin. Die Arroganz springt von der Theorie ins Reale: Du hängst dem nach, was sein wird. Die Zukunft ist besiegelt, sie ist nicht diskutierbar. Das ist schlicht das Gegenteil von Politik.

Wer Andersdenkenden den Stempel der Abgehängten aufdrückt, meist sogar in der vermeintlich wohlwollenden, mitfühlenden Absicht, um Verständnis für ihre Langsamkeit zu werben, entzieht sie dem Politischen. Eine Erniedrigung ist es ohnehin.

Mehr Bullshit-Wort-Tests finden Sie in der neuen taz FUTURZWEI-Ausgabe „Weiterdenken“ und an dieser Stelle auf taz.de.

Werden Sie auch Bullshit-Wort-Tester: Was ist Ihre Lieblingsphrase und warum? Schreiben Sie uns: tazfuturzwei@taz.de.