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taz FUTURZWEI

Der Bullshit-Wort-Check, Folge 4 „Vulnerabel“ und „sozial schwach“

Was taugen diese Begriffe für das Verständnis der Gegenwart? taz FUTURZWEI-Gastautorinnen testen Standards des politischen Sprechens. Heute: Sibylle Berg und Arno Frank.

Voll im Trend: sich über Alte amüsieren Foto: Alex Boyd/unsplash

taz FUTURZWEI | In der heutigen Folge unseres „Bullshit-Wort-Checks“ untersucht SIBYLLE BERG, Schriftstellerin und neuerdings Politikerin (Die PARTEI), den Begriff „vulnerabel“. Journalist und Schriftsteller ARNO FRANK seziert „sozial schwach“.

Vulnerabel (Sibylle Berg)

Das Wort, das mich anfangs an ein Blasinstrument während irgendeiner Fußball-WM irgendwo erinnerte, ist in der Corona-Zeit gekommen. Und es blieb. Vulnerabel, auch ein Hauch Vulva schwingt mit, meint nichts anderes als – verletzbar zu sein. Damit wäre die Sache gegessen, wenn das arme, kleine Geschlechtsorgan-Blasinstrumentenwort nicht missbraucht worden wäre. Es gab plötzlich vulnerable Menschen, die man vor anderen Menschen und sich selbst schützen musste. Es gab die Jungen, die Macher, die mit Programmierfähigkeiten (das heißt, sie können ein Handy bedienen; mit zwei Daumen, cool). Und es gab die Dahinsiechenden, nicht mehr Verwertbaren, die man wie Haustiere füttern muss und die man einer Triage zuführen kann. Hey, das ist medizinisch vollkommen in Ordnung.

Deutschland hat bekanntermaßen nicht nur eine schwierige Beziehung zu Wortkreationen, Doppelwumms und Schuldenbremse, sondern auch zu seinen älteren, schwächeren, vom System ausgekotzten Menschen. Man räumt sie aus überteuerten Wohnungen, man gibt ihnen Almosen, will die aber für den Frieden und Lindners nächste Hochzeit kürzen.

Vulnerable Menschen haben Vorerkrankungen, eingewachsene Zehennägel, oder sagen wir – sie verfallen, altern, verwesen. Wie du, junger alerter Mensch, der sich über Alte lustig macht. Ich wünsche dir ein gutes Leben, das irgendwann endet. Und dich in einen neuen Raum führt, wo sie auf dich warten, die Verletzbaren, um dich auszuweiden.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Zur neuen Ausgabe

„Sozial schwach“ (Arno Frank)

Früher war bekanntlich nicht alles besser. Aber eindeutiger, das war es schon. Ich beispielsweise komme aus einer »Assi«-Familie. Jeder Asoziale wusste, was damit gemeint ist. Kein Geld für herzeigbare Wohnverhältnisse, kein Geld für vernünftige Klamotten, kein Geld für Klassenfahrten. Kein Geld also für alles, was es zum Dazugehören brauchte. Assi gab‘s als Substantiv („Da kommt der Assi!“) und Adjektiv („Ey, wie assi ist das denn?“), beides mit Doppel-s gesprochen – damit es so scharf klang, wie es gemeint war. Ich bin noch zusammengezuckt, wenn später an der Universität eine wissenschaftliche Hilfskraft als „Assi“ bezeichnet wurde.

Hier hätten wir den „kleinen Unterschied“ von Pierre Bourdieu „in a nutshell“. In der Zwischenzeit ist aus Raider irgendwie Twix, aus dem Dazugehören eine vornehme „Teilhabe“ und aus dem Assi ein „sozial Benachteiligter“ oder „sozial Schwacher“ geworden. Ein sprachkosmetischer Coup, der die Ursachen von Armut nicht nur unangetastet lässt, sondern noch weiter verschleiert.

Sozial ist nach gängiger Definition, wer Einfühlung und Bereitschaft zeigt, eigene Interessen gegebenenfalls zugunsten anderer Menschen zurückzustellen. Als „sozial schwach“ hätte demnach eher ein Mensch zu gelten, dem sein Porsche oder Portfolio näher ist als das Gemeinwohl. Und nachgerade „asozial“ wäre zu nennen, wer seinen Reichtum auf Kosten des Großen und Ganzen zusammenrafft. Interessanterweise spricht hier niemand ausgrenzend von „sozial Schwachen“. Hier ist dann die anerkennende Rede von „finanzstarken“ Bürgerinnen und Bürgern.

Mehr Bullshit-Wort-Tests finden Sie in der neuen taz FUTURZWEI-Ausgabe „Weiterdenken“ und an dieser Stelle auf taz.de.

Werden Sie auch Bullshit-Wort-Tester: Was ist Ihre Lieblingsphrase und warum? Schreiben Sie uns: tazfuturzwei@taz.de.