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Der „Berlinologe“ Michael Bienert folgt anekdotenreich in einem Spaziergang E. T. A. Hoffmanns LebensortenKein Sekt, aber viel Schaumwein

Berlin auf Blättern

Jörg Sundermeier

An jedem 22. Juni wird der Friedhof am Halleschen Tor zum Schauplatz eines merkwürdigen Rituals. Denn an diesem Datum versammeln sich dort illustre und auch biedere Gestalten rund um das Grab E. T. A. Hoffmanns, um dem Dichter ein „Trankopfer“ darzubringen – indem sie Sekt der Marke Lutter & Wegner auf seinem Grab verschütten.

Dass der Schaumwein seit dem 19. Jahrhundert hierzulande Sekt heißt, ist, so wird vielfach behauptet, ebenfalls dem Dichter und Komponisten Hoffmann zu verdanken. Das allerdings ist falsch. Es war, so will die Legende, der Schauspieler Ludwig Devrient, ein Zechkumpane Hoffmans, der 1825 in das Lokal Lutter & Wegner stürzte und „A cup of sack!“ forderte, so wie er es eben noch als Shakespeares „Falstaff“ getan hatte. Doch die Kellner, die ihn kannten, brachten ihm statt des Sherrys, der bei Shakespeare verlangt wird, den geliebten Schaumwein. Die zufälligen Zuschauer aber griffen das Wort des bekannten Mimen auf, und so kam der Sekt zu seinem Namen. Der Freund des Trinkers Devrient, Hoffmann, war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon drei Jahre tot.

Doch dessen Biografie nimmt Michael Bienert zum Anlass, um „E. T. A. Hoffmanns Berlin“ zu erkunden, so wie er das vorher schon in dem Band „Kästners Berlin“ mit den Lebensorten des „Pünktchen und Anton“-Autors getan hat.

Anders aber als bei Kästner, dessen Wohnhäuser und Lieblingsorte oft noch vorhanden sind und dessen Berliner Stadtbild sich noch ziemlich gut rekonstruieren lässt, muss Bienert in „E. T. A. Hoffmanns Berlin“ viel mehr erzählen – und das tut dem reich bebilderten Buch sehr gut!

Der „Berlinologe“ Bienert führt nicht an einer Chronologie orientiert zu Hoffmanns Lebensorten, er folgt anekdotenreich eher einem Spaziergang – vom Jüdischen Museum, dessen Altbau, das Collegienhaus, einst als Kammergericht diente, in dem wiederum Hoffmann als Richter seinen Dienst tat, hin zum Gendarmenmarkt, in dessen Umgebung Hoffmann stets wohnte und auf dessen Nationaltheaterbau – heute Konzerthaus – er von seiner letzten Wohnstatt aus schauen konnte, über die Weinstuben, in denen sich Hoffmann Tag um Tag betrank, über den Tiergarten, in den ebenfalls die Gaststuben lockten, bis schließlich hin zu seiner letzten Ruhestätte, die wiederum unweit vom Ausgangspunkt liegt.

Da sich der Gendarmenmarkt, das Hallesche Tor und all die anderen Stätten, an denen sich Hoffmann aufhielt, bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, wenn überhaupt noch Altbauten und Straßenläufe vorhanden sind, muss Bienert sehr viel erklären. Dabei greift er auf alte Stiche und Erzählungen von Hoffmanns Freunden zurück, doch dankenswerterweise auch auf Hoffmanns eigene Schriften, auf „Des Vetters Eckfenster“ etwa, und vor allem auf Hoffmanns eigenhändige Zeichnungen und Karikaturen. So lässt er auch da, wo nur Fotos von heute vorliegen, ein Berlin in der Fantasie wiederauferstehen, das dem heutigen nicht unbedingt nachstand. Zumindest wenn man ein Lebemensch wie Hoffmann war.

So zitiert Bienert Julius Eberhard Hitzig, Hoffmanns Freund, über dessen Benehmen im Salon: „Wenn er sich langweilte, schnitt Hoffmann Grimassen und benahm sich so unhöflich gegen seine Gastgeber, dass er nur selten ein zweites Mal eingeladen wurde.“ Als Hoffmann ein Schauspieler missfiel, organisierte er einen Tumult im Theater, den die Polizei auflösen musste – der so blamierte Schauspieler floh umgehend die Stadt Berlin. Doch bei allem Anekdotischen bewahrt Bienert stets den Respekt vor dem Klassiker, verweist auch auf Hoffmanns großes musikalisches Werk und seinen Einfluss.

Bienert zeigt uns, wie sehr in dem so oft umgebauten und herausgeputzten Berlin das vergangene lebendig ist. Und wie es an jedem 22. Juni Schaumwein mit uns trinkt.

Michael Bienert: „E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze“. vbb Verlag für Berlin-Brandenburg 2015, 176 Seiten, 24,99 €

Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags und freier Autor

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