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Der Bahia-Boom

Afrobrasilianische Kultur und Musik gab es schon, bevor die nordamerikanischen und europäischen Popstars sie entdeckten  ■ Von Andreas Weiser

Man schrieb das Jahr 1538 christlicher Zeitrechnung, als im heutigen Salvador, Bahia, die ersten schwarzen Sklaven brasilianischen Boden betraten. Über die Jahrhunderte wurden die verschiedensten afrikanischen Stämme von der West- wie von der Ostküste Afrikas nach Brasilien verschleppt. Sie alle brachten ihre Sprachen, ihre Götter, Mythen und Rituale, ihre Tänze, Lieder und Rhythmen mit. Trotz Verbot, Unterdrückung, christlicher Missionierung und der Vermischung mit europäischer und indianischer Kultur überlebten die afrikanischen Lieder, Rhythmen und Götter und mit ihnen auch ihre versklavten Kinder.

Der Totenkult der eguns, der Kampftanz Capoeira oder die Religion des Candomblé sind auch heute noch lebendige Überreste afrikanischer Wurzeln.

Bahia — das ist Mutter und Vater zugleich. Denn Ba heißt in der Sprache der Yoruba, einem der Völker, die nach Brasilien verschleppt wurden, Vater, und Ya bedeutet Mutter.

Mit einigem Stolz in der Stimme betonen heute viele baianische Künstler, daß hier in Salvador/Bahia die Wiege der afrobrasilianischen Kultur zu suchen ist. „Salvador, capital da rassa negra brasileira“, heißt es in einem Jingle eines baianischen Lokalradios: „Salvador, Hauptstadt der schwarzen Rasse Brasiliens.“ Vor allem aber sind in Salvador „os todos os santos“, also alle Heiligen bzw. Götter versammelt, die die afrobrasilianischen Religionen so kennen.

Trotz seiner 365 katholischen Kirchen ist die beherrschende Religion Salvadors der synkretistische afrobrasilianische Candomblé. In katholischen Heiligen (os santos) werden die alten afrikanischen Götter, die „Orixas“, verehrt. Candomblé ist die Religion der schwarzen Unterschicht Bahias, die sich in der praktischen Ausübung der Religion ihrer Ahnen eine lebenswichtige Identität bewahrt hat.

Die Lieder und Rhythmen, mit denen die alten afrikanischen Götter gerufen werden und mit denen sich initiierte Medien in Trance versetzen, gehen meist auf vergangene Yoruba- oder Bantukulte zurück. Vieles ist verlorengegangen, verwässert oder einfach weiterentwickelt worden, der Draht zu „Mama Africa“ jedoch wurde nie gekappt.

Seit einiger Zeit entdecken auch die weißen Künstler und Intellektuellen Brasiliens den Candomblé sowie deren großstädtische Weiterentwicklungen (Makumba und Umbanda) für sich. Auch sie suchen hier eine im vergangenen Afrika verwurzelte brasilianische Identität. Mehr oder weniger bewußt werden auch die offenkundigen psychotherapeutischen Effekte der Candomblépraxis wahrgenommen, denn die Mae und Pae do Santos — die Priesterinnen und Priester des Candomblé — haben oft ein großes jahrhundertealtes, mythologisch begründetes Wissen über die menschliche Seele.

Die Kultstätten des Candomblé (Terreiros, in Salvador gibt es einige Tausend) sind auch sozialer Treffpunkt einer Candomblégemeinde; es gibt kaum einen friedlicheren und sichereren Ort im sonst so von Armutskriminalität heimgesuchten Brasilien, als einen solchen.

„Du würdest sogar ein Bad in Teer nehmen, um auch schwarz sein zu können.“

Viele junge Schwarze Bahias aber scheint diese traditionelle, spirituelle und nach innen gerichtete Art der Identitätsfindung jedoch nicht mehr zu befriedigen. Ihr Weg geht nach außen. Wie die Rasta Jamaicas lassen sie sich die Haare zu Dreadlocks wachsen und küren alte afrikanische Führer und Könige zu ihren Leitfiguren. Sie sind in den sogenannten „Blocos afro“ organisiert, die vor 15 bis 20 Jahren ursprünglich als bloße Karnevalsvereine gegründet worden waren, um zunächst mal im Karneval mit nachempfundenen afrikanischen Kleidern, Liedern und Rhythmen ein neuerwachtes afrobrasilianisches Selbstbewußtsein zu demonstrieren. Mittlerweile haben sich diese Vereine politisiert und die Feste und sogenannten Proben, bei denen sie sich, wie die Sambaschulen Rios, auf den Karneval vorbereiten, haben nicht selten den Charakter politischer Manifestation. Beschworen wird die „rassa negra“, die schwarze Haut, die schwarze Herkunft und die schwarze Kraft.

In einem Lied von Ile Aiye, einem der bedeutendsten Afroblocos heißt es: „Weißer, wenn du wüßtest, welchen Wert der Schwarze hat, würdest du sogar ein Bad in Teer nehmen, um auch schwarz sein zu können. Aber ich werde dich weder in meine Art zu Leben einweihen, noch dir auch nur einen kleinen Einblick in meine Philosophie geben, die den Blinden sehen läßt.“ Das ist deutlich. Im Gegensatz zu den Candomblégemeinden, die auch Weiße in ihre Reihen aufnehmen, sind die Afroblocos für Bleichgesichter tabu.

Das Paradoxe ist, daß die Blocos sich zwar ständig auf „Mama Africa“ beziehen und die Heimat ihrer Ahnen beschwörend verehren, die Art, in der sie das tun, jedoch eine brasilianische Eigenentwicklung ist, die sehr viel mit moderner karibischer und sehr wenig mit der eigenen tradierten afrikanischen Kultur zu tun hat.

Die Musik der Afroblocos z.B. ist eine Mischung aus dem Reggae Jamaicas und dem Merengue aus der Dominikanischen Republik, gespielt auf Sambatrommeln. Die Liedform ist dem Samba enredo Rio de Janeiros ähnlich. Mit den Kulten der Bantu oder Yoruba hat das nur wenig zu tun. Die sind eher brasilianisch als afrikanisch. „Mama Africa“ dient als Folie für ein neues schwarzes brasilianisches Selbstbewußtsein.

Die soziale Heimat der Blocos sind die rein schwarzen Wohngebiete, die Vorstädte und die Slums von Salvador. Der zur Zeit berühmteste Bloco, „Olodum“, kommt aus dem Pelourinho, dem verfallenden Altstadtviertel Salvadors. Hier, auf dem Largo Pelourinho, wo einst am Schandpfahl aufbegehrende Sklaven gedemütigt und ausgepeitscht wurden, finden an den Wochenenden des brasilianischen Sommers die öffentlichen Proben statt: eine Mischung aus Tanzveranstaltung, Touristenspektakel und Polittheater. Während auf der Bühne in den Tanzpausen feurige Reden für die schwarze Sache gehalten werden, verkaufen sich unten auf dem Platz sehr junge schwarze Mädchen für ein paar Cruzeiros die Nacht an gut genährte weiße Europäer oder US-Amerikaner. Schwarze brasilianische Realität.

Der Pelourinho, Heimat von Olodum, ist ein Sodom und Gomorrha aus Drogen, Prostitution und Armutskriminalität. Nach Einbruch der Dunkelheit wagen sich, aus Angst vor Raubüberfällen, nicht mal mehr die Taxifahrer in dieses Viertel. Täglich gibt es Überfälle und nicht selten Tote. Der mörderische Alltag dieser schwarzen Armutsviertel ist der soziale Background der Bewegung der Afroblocos. Die Trommler, Sänger, Tänzer und Tänzerinnen sind Kinder der Straße. Sie gehen in die Blocos, um ihr Selbstwertgefühl nicht zu verlieren.

Welche Bedeutung die Blocos für die schwarze Jugend Bahias hat, wird in dem von Caetano Veloso so wunderschön interpretierten Song „Depois que o Ile passar“ deutlich. Frei übersetzt heißt es da: „Mein Liebling, laß uns ins Bett gehen miteinander, nimm mich jetzt und gib mir einen süßen Kuß, meinetwegen bis mein Gesicht plattgedrückt ist, aber laß mich los, wenn Ile vorbeikommt. Dich, Ile Ajye, möchte ich sehen, wenn du hier vorbeikommst. Laß mich in Ruhe, berühr mich nicht und bitte mach mich nicht an; das einzige, was ich will, ist dich, Ile Ajye, sehen, wenn du hier vorbeikommst.“

Nicht alle jungen Baianer aber identifizieren sich mit den Blocos. Gaby Guedes z.B., aufgewachsen in einem der berühmtesten Candomblés Brasiliens, dem Terreiro vom Gantois, steht den Blocos ziemlich kritisch gegenüber. Er wurde in der Tradition des Candomblé erzogen, kennt alle Rhythmen und Lieder dieser noch sehr an die afrikanischen Ursprünge erinnernden Religion und ist mittlerweile einer der Besten und profundesten Perkussionisten Bahias (zu hören z.B. auf „Ellegibo“ von Margareth Menezes). Er sagt von sich, seine Plattform sei die Musik, die Lieder und Rhythmen Afrikas, die sich im traditionellen Candomblé erhalten haben. Die Musik der Blocos habe damit nichts zu tun. Für ihn ist da zuviel Reggae, zuviel jamaicanische Rasta-Philosophie mit im Spiel. Gaby ärgert sich, daß die originäre afro-brasilianische Musik des Candomblé so wenig Einzug findet in die moderne Popularmusik Brasiliens und die eigentlichen afrobrasilianischen Wurzeln so gering im offiziellen Kulturbetrieb geachtet werden.

Vielleicht wehren sich die Götter gegen ihre Vermarktung

Zugegeben, die Musik des Candomblé und seine Rhythmen sind für ungeübte Ohren sperrig, und vielleicht wehren sich die Götter ja auch gegen ihre Vermarktung. Aber es geht trotzdem; und das zeigt ausgerechnet ein in Deutschland lebender Brasilianer. Dudu Tuccis Debutalbum „Odudua“ mischt sehr überzeugend afrobrasilianische Wurzeln mit moderner zeitgenössischer Musik. Massenwirksamer Pop ist das allerdings nicht. Man muß sich schon, wie auch beim Candomblé selbst, einlassen um zu verstehen. Statt Berieselung kreative Teilnahme.

Eins allerdings haben die Afroblocos schon erreicht: ihre Musik, ihre Rhythmen und ihre Themen sind mittlerweile in ganz Brasilien populär und werden auch in den USA und in Europa rezipiert. Olodum wurde in den USA veröffentlicht, die durch David Byrne auch in Europa bekannt gemachte baianische Sängerin Margareth Menezes brachte die Musik der Blocos auch hierher.

Verdienen an diesem Erfolg werden viele, am wenigsten aber wahrscheinlich diejenigen, die diese neue Musik kreiert haben. Trotz ihrer derzeitigen Popularität werden die schwarzen Straßenkids Bahias wohl auch in Zukunft nur eine Statistenrolle im internationalen Popgeschäft einnehmen und vornehmlich als Staffage für die Projekte internationaler Stars wie Paul Simon herhalten. Der allerdings wird in nächster Zukunft mit seinem neuen Album „Rhythm of the Saints“ sicher ins Schwarze treffen und kräftig absahnen. Paul Simon ist auf der Höhe der Zeit, wenn er auf der ersten Singleauskoppelung von „Rhythm of the Saints“ sein Liedchen „Obvious Child“ ganz einfach über den pulsierenden und erdigen Groove von Olodum trällert, oder im gleichnamigen Videoclip vor einer lebenden Tapete schwarzer Trommler sanft die Saiten seiner Gitarre zupft.

„Paul Simon hat den Musikern einen Hungerlohn gezahlt.“

Vor gut zwei Jahren hatten die Kultjäger und Soundsammler des Paul- Simon-Trosses mal eben für einen Monat in Salvador/Bahia haltgemacht. Die Straße wurde zum Studio, die Kids der Afroblocos zur lebendigen Rhythmusmaschine. Man sammelte (sprich: nahm auf), was es gab und was gegeben wurde. Aus den in heimatlichen Studios gesichteten und nach Verwendungsmöglichkeiten getesteten Aufnahmen entstanden dann Teile von „Rhythm of the Saints“. Ein nicht besonders heiliges und — so finden viele brasilianische Künstler — auch kein besonders lauteres Verfahren. Einer von ihnen, der baianische Komponist und Sänger Roberto Mendes (er arbeitete u.a. mit Maria Bethania, Caetano Veloso und Jorge Degas) dazu im Wortlaut: „Ja, ja, es lohnt sich hierher zu kommen. Es ist ein Austausch und jeder kann eigentlich hierherkommen und lernen. Ich geh ja auch in fremde Länder, um mich weiterzuentwickeln. Aber wie Paul Simon hierhergekommen ist, das ist schon mehr als seltsam. Er ist sozusagen heimlich hier aufgekreuzt. Er bzw. seine Leute haben hier ein Studio gemietet. Wahrscheinlich kann er selbst gar nichts dafür, aber seine Begleiter, sein Management, seine brasilianischen Begleiter aus Rio haben sich hier wie die großen Bosse aufgeführt. Möglich, daß er nicht wußte was vorging, aber die Leute haben idiotischerweise niemanden an ihn rangelassen. Also, wenn man schon hierherkommt, sollte man doch wenigstens versuchen, zu den Leuten, von denen man was will, Kontakt aufzunehmen, damit ein wirklicher Austausch möglich wird.

In Bahia gibt es genügend Künstler, die mindestens genauso gut und bedeutend sind wie Paul Simon. Wir haben Caetano Veloso, Gilberto Gil, Joao Gilberto und andere. Wir sind es gewöhnt, auf hohem Niveau zu arbeiten. Paul Simon was Besonderes? Nee, eigentlich ist der in Bahia auch nur ein ganz gewöhnlicher Künstler wie wir alle.

Er hat sehr viel aufgenommen, konnte das Studio mieten, weil er eben Geld hat. Er hat die Jungs von der Straße geholt und sich alles von ihnen aufnehmen lassen. Dann hat er sich die Bänder geschnappt und ist verschwunden. Bezahlt wurde ein Hungerlohn. Die Gage für die Musiker war kaum mehr als ein Trinkgeld. Besonders elegant war das nicht.

Er war einen Monat hier, ohne öffentlich aufzutauchen. Sowas wie mit Paul Simon ist hier schon öfters passiert, aber mittlerweile haben wir unsere Lehren daraus gezogen. So leicht wie früher verkauft sich der baianische Künstler nicht mehr. Wir wollen nicht mehr ausgebeutet und untergebuttert werden. Wir werden nicht mehr bitten, sondern uns in Zukunft den uns zustehenden Platz einfach nehmen. Und wenn uns einer dabei stören will, dann wird er von uns zur Hölle geschickt.“

Bücher und Platten zum Thema:

Bücher:

Edgar Ricardo von Buettner: Baianas, Priesterinnen der Straße, edition dia, St. Gallen/Wuppertal 1985

Piero Onori: Sprechender Körper, Capoeira ein afrobrasilianischer Kampftanz, edition dia, St. Gallen/Köln 1988

Hubert Fichte: Xango, Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1981

Platten:

Margareth Menezes, Ellegibo, Polydor 843556-2

Dudu Tucci, Odudua, Erdenklang 90344

Afros Afoxes da Bahia, Polydor (Import) 837 658-1

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