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Archiv-Artikel

Der Ausreiseminister

Fischer dreht seit Jahren an etlichen großen Rädern. Was gehen ihn da einige Beamte in Kiew an?Schröder hat Fischer nicht nur an seine Rolle als Kellner erinnert, er hat ihn zum Liftboy degradiert

VON JÜRGEN BUSCHE

Es ist die älteste Geschichte europäischer Geschichte, älter noch als der Begriff der Politik. Die Mächtigen kommen durch Hybris zu Fall. „Am Grunde der Moldau da wandern die Steine“, lässt Brecht seine Wirtin im Prager Gasthaus singen, in dem der brave Soldat Schwejk verkehrt, „die großen Pläne der Mächtigen“ brechen diesen den Hals, die kleinen Leute treffen sich wieder „nach dem Krieg um Fünf ‚Im Kelch‘“.

Um große Pläne geht es nicht immer. Hybris wirkt sich häufiger als Missachtung des Alltags aus. Da werden Fehler gemacht, wenn der Himmel voller Geigen hängt, und weil der Alltag langweilig ist, erkennt man sie zu spät und lässt sich unwillig darauf ein, sie zu korrigieren. So scheint es jetzt Joschka Fischer zu ergehen. Seine Karriere wird seit Jahren in Superlativen beschrieben. Zu Recht. Aber gerade darum eine prächtige Vorlage für eine Geschichte, in der Hybris die Hauptrolle spielen soll. „Übermut, Vermessenheit“ – so übersetzt man Hybris. Vermessenheit, weiß der Griechenfreund, besonders gegenüber den olympischen Göttern. Die olympischen Götter, weiß der Kenner der Mythologie, sind aber nichts anderes als die idealen Vorstellungen, die der Mensch von sich selbst hat. Hybris ist also jene Vermessenheit, mit der ein hochfahrender Mensch gegen das ideale Bild verstößt, das er von sich selbst, seinen Hoffnungen und seinen Tugenden hat – und anderen zu vermitteln sucht. Gerade das Letztere kann extrem langweilig werden. Joschka Fischer hat seit sechs Jahren etliche sehr große Räder, an denen er drehen kann und muss. Was gehen ihn da die Nöte von ein paar Beamten des Auswärtigen Amtes in Kiew an?

Doch jählings spricht ein Richter in einer Stadt der deutschen Provinz von einem Putsch dieses Amtes gegen die geltenden Gesetze und begründet damit, dass er einen Angeklagten aufgrund der vom Außenminister geschaffenen Lage nicht so streng aburteilt, wie es möglich und vielleicht geboten wäre. Dabei handelt es sich bei den kriminellen Auswüchsen keineswegs um Fälle wie Hühnerdiebstahl oder Fahrradklau, die Stichworte sind Schleuserkriminalität, illegale Beschäftigung und Zwangsprostitution. Da erstaunt es ein zweifelndes Publikum schon, wie mild grüne Frauen an der Partei- und Fraktionsspitze der ehedem alternativen Partei über das Missgeschick säuseln, das ihren Heros ganz oben jetzt ereilt hat.

Fischer hat einen Erlass des Auswärtigen Amtes zu verantworten, der dem Missbrauch vereinfachter Einreisebedingungen nach Deutschland Tür und Tor geöffnet hat. Und er hat es als Ressortminister politisch zu verantworten, dass dieser Missbrauch zumal von Kiew aus über Jahre in großem Umfang betrieben wurde. Warnungen des Bundesinnenministers, Warnungen von Sicherheitsbehörden, Warnungen von Beamten an den Botschaften wurden ignoriert, jahrelang.

Das sind zwei Vorwürfe. Es ist verblüffend, wie bisher auf sie reagiert wurde. Der erste betrifft die Vereinfachung der Einreisebedingungen. Dafür stand der Name „Volmer-Erlass“, aber die Unterschrift hatte Fischer geleistet. Da konnte und kann man grüne Blauäugigkeit – sollte man Grünäugigkeit sagen? – unterstellen. Und das geschieht auch jetzt. Politisch sei das ja als Akt notwendiger Liberalisierung erwünscht gewesen. Auch wird von grünen PolitikerInnen darauf hingewiesen, dass dergleichen bereits von der Kohl-Regierung eingeleitet worden sei und von Abgeordneten der Opposition gefordert wurde. Das zweite betrifft die unzureichende Reaktion des Amts, als der massenweise kriminelle Missbrauch des Erlasses ruchbar wurde. Hier kommt es darauf an, für wie gravierend Beurteiler die Dimension, auch die Folgen des Missbrauchs halten. Bei dem Wort „Förderung der Zwangsprostitution“ hätte für Politikerinnen wie Claudia Roth und andere vordem jeder Spaß aufgehört. Jetzt scheint das nicht mehr so wichtig zu sein. Man wird sich das merken müssen. Aber gewiss ist das alles weniger wichtig als das Management des deutschen Fernbleibens vom Irakkrieg.

Immerhin scheinen die Verteidigungslinien Fischers durcheinander gekommen zu sein. Was dem Komplex Visa-Affäre als ungewollte Folge freundlicher Absichten entlastend abgewonnen werden könnte, wird als Leistung von Unionspolitikern hingestellt – als gelte es, sich für die liebenswerten Absichten zu entschuldigen, was nicht zu entschuldigen ist: Das jahrelange Zusehen bei einem Missbrauch soll bagatellisiert werden. Es sind in der alles andere als rücktrittsfreudigen Bundesrepublik schon Minister aus weniger gewichtigen Gründen zurückgetreten.

Fischers Hybris bestand darin, dass er den Vorgang zu lange nicht ernst genommen hat. Seine schwache Verteidigung lässt vermuten, dass er ihn immer noch nicht sonderlich erst nimmt. Er hält sich an der Spitze der Grünen – an der er formell gar nicht steht – für unabsetzbar, was er auch ist, weil er dorthin nicht gewählt ist und von dort auch nicht abgewählt werden kann. Fischer führt die Grünen gleichsam aus naturwüchsiger Kompetenz. Es ist nicht zu erkennen, ob ihm dies niemand bestreitet, weil es da nichts zu bestreiten gibt, oder ob da niemand aufmuckt, weil der Mut dazu fehlt. So sieht idealer Nährboden für Hybris aus – nicht, dass Fischer ihn nötig hätte.

Weil vermeintlich unersetzbar an der Spitze der Grünen, hält sich Fischer auch für unersetzbar als Partner von Bundeskanzler Schröder an der Spitze der Bundesregierung. Gegen solche Selbsteinschätzung wird sich bei den Regierungsmitgliedern des Koalitionspartners um so weniger Widerspruch erheben, je ineffizienter die Arbeit des Ministers ist, je schwächer die Position des Grünen-Heros in der kritisch gesinnten Öffentlichkeit wird. Ein Alarmsignal ist es, wenn Partner sich gegenseitig des Vertrauens versichern. Aber nicht das wird Fischer derzeit beunruhigen an der Solidaritätsadresse von Kanzler Schröder. Dass überhaupt der Eindruck entsteht, es sei schon so weit, dass einer wie Schröder ihm zu Hilfe eilen müsse, wird den Caudillo als Vizekanzler mächtig wurmen.

Es sollte ihm zu denken geben. Und er sollte sich nicht täuschen. Jahrelang erschien er als die stärkste politische Kraft in Berlin. Widerspruchslos konnte lanciert werden, die Sache mit der Irakverweigerung sei seine Idee gewesen, der Wahlsieg 2002 also ihm zu verdanken. Schröder wirkte schwach: durch Lafontaine, dann durch dessen Rücktritt, dann Schröders Rücktritt vom Parteivorsitz, dann die Reform des Sozialstaats. Fischer sollte genau registrieren, wie es heute aussieht: Lafontaine ist vergessen, an der Spitze der SPD steht ein Mann, der Frondeure in Schach zu halten weiß, die Standfestigkeit bei den sozialen Reformen trägt nun dem Kanzler mehr und mehr Achtung ein.

Schröder ist stärker denn je. Mit seiner Fundamentalkritik an der Nato – von Struck auf der Wehrkundetagung vertretungsweise vorgetragen – hat der Kanzler als Koch seinen Außenminister nicht nur an die Rolle als Kellner erinnert, er hat ihn zum Liftboy degradiert, dessen Platz nicht einmal da ist, wo aufgetragen wird. Der Reiseminister, mit seinem bösen Ruf als Ausreiseminister beschäftigt, stotterte der Diskussion hinterher. Aber Schröder hat bei dieser Gelegenheit mehr getan. Er hat für den Teil der Öffentlichkeit, für den das rot-grüne Projekt Erfüllung ältester Sehnsüchte ist, deutlich gemacht, dass Lieblingsthemen wie das Unbehagen an der Nato bei einem SPD-Kanzler bestens aufgehoben sind. Er wird es machen, wenn da was zu machen ist. Die Grünen, so die Botschaft, braucht niemand. Dann braucht auch niemand Joschka Fischer. Er wird sich am Ende fragen, ob die Grünen ihn brauchen. In Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg? Braucht ihn Renate Künast, wird Jürgen Trittin schlaflose Nächte bekommen, wenn Fischer abtritt? Oder Reinhard Bütikofer, der mehr als Bundesvorsitzender der Grünen erscheint als je ein Parteisprecher vor ihm?

Man braucht keinen Blick auf Joschka Fischer zu werfen, wenn man beobachtet, wie sich die Verhältnisse an der Spitze der Grünen und an der Spitze der SPD verändert haben. Beides hat zur Folge, dass es auf Fischer nicht mehr so sehr ankommt wie in der Vergangenheit. Er ist nicht einmal mehr so stark, dass man sich wünschte, ihn loszuwerden. Man kann ihn weitermachen lassen, solange die Belastung durch die Visa-Affäre nicht zu groß wird. Aber man könnte sich auch von ihm trennen. Die Wähler? Keine Partei ist so wenig von Wechselwählern gefährdet wie die Grünen. Sie wurden gewählt, obwohl ihre Politiker erstmals seit 1945 deutsche Soldaten in den Krieg schickten. Sie würden auch gewählt werden, wenn die Berliner Joschka Fischer nach Hause schickten. Sie würden freilich auch gewählt, wenn sie ihrem früheren Turnschuhminister durch dick und dünn die Treue hielten. Warum auch nicht?