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Der Augapfel verrottet zuerst

Vier Frauen, Körper, Tod: „Lash – Acts of Love“ von Rebecca Saunders und Ed Atkins an der Deutschen Oper Berlin ist ein multimediales Gesamtkunstwerk, dies- und jenseitig zugleich

Von Katharina Granzin

Man könnte schreiben: Die erste Oper der Komponistin Rebecca Saunders erlebte an der Deutschen Oper Berlin ihre fulminante Uraufführung. Doch diese Produktion als „Oper“ zu bezeichnen, scheint gar nicht so angemessen; „Lash“ ist ein Gesamtkunstwerk in einem entschieden weiteren Sinne.

Auf Basis eines Textes des britischen Multikünstlers Ed Atkins hat Saunders ein musikalisches Werk geschaffen, das durch die Regie des Zweier-Kollektivs Dead Centre, die Videoarbeit Sébastien Dupoeys, die Ausstattung Nina Wetzels weitere sinnliche Dimensionen erhält, in denen sich Musik und Text im direkten Erleben brechen, vervielfältigen, spiegeln. Und es ist wohl genau dieser Vorgang, dieses Herunterbrechen auf Bedeutungs- und Identitätsfragmente, der „Lash“ im Kern ausmacht – falls sich in diesem Zusammenhang überhaupt von einem solchen sprechen lässt.

Eine Schauspielerin (Katja Kolm) und drei Sängerinnen (Anna Prohaska, Nora Frenkel, Sarah Maria Sun), alles Virtuosinnen ihrer jeweiligen Zunft, stehen die meiste Zeit gemeinsam auf der Bühne, in verschiedenen Konstellationen. In vierfacher Gestalt sind sie eine einzige Frau, die zu Beginn des Stückes in einem Bett..... ja, was tut? So gern dieser Satz mit „erwacht“ fortgesetzt würde, macht die Soundkulisse doch von vornherein fühlbar, dass es sich beim Bühnengeschehen womöglich eher um das Gegenteil eines Erwachens handelt. Das Libretto spricht von „pink noise“, und Saunders überführt Atkins’ sprachpoetische Begrifflichkeit in einen Klang, der gleichzeitig jenseitig und sinnlich wirkt, ein seltsam flimmerndes, hintergründiges Rauschen.

In einem fulminanten Solo lässt Katja Kolm aus fast sprachlosem Artikulieren (eines der wenigen verständlichen Wörter ist „stroke“) Sprache erwachsen und schließlich die erste klar formulierte Aussage: „I wanted to ask if finding an eyelash under your skin was significant“. Das wird zu einem Mantra des Versäumt-Habens: „I wanted to ask…“. Ein riesenhaftes Close-up einer Wimper (eine, aber nicht die einzige Bedeutung von „lash“) hatte vor Beginn der Vorstellung den Bühnenhimmel gefüllt. Wimpern, Münder, Augen durchziehen in Projektionen das Stück. „Eyeballs, the first thing to rot in death“, singt N.

N ist die Altistin Nora Frenkel, und auch die anderen Bühnen-Personae sind nach ihren Darstellerinnen benannt – K, A, S. Denn Saunders hat ihnen ihre Partien gleichsam auf den Leib komponiert. A(nna Prohaska) etwa leitet mit einer Reihe seltsam zitternder Skalen, näherungsweise Verzierungen der Renaissancemusik nachempfunden, eine eindrucksvoll gespenstische Passage ein, in der A’s Tonabfolgen von S(arah Maria Sun) aufgenommen werden, dann von einzelnen Instrumenten. Und aus dem anfänglich rudimentären Material entsteht unten im Orchestergraben (betreut von Enno Poppe) ein ganzer musikalischer Echoraum, der die Sängerinnen schließlich fast tröstlich umgibt.

Die Art, wie Saunders Klangräume um menschliche Stimmen herum baut, hat etwas sehr konkret Körperliches, Physisches. Nimmt ein Instrument einen Ton auf, den zuvor eine Sängerin intoniert hat, entsteht eine physikalische Verbindung über die Gleichartigkeit der Schwingungen; aus der Unterschiedlichkeit der Klangfarben aber erwächst eine weitere klangräumliche Dimension, eine schwebende Ursuppe für die Evolution neuer musikalischer Gestalten.

Diese multimediale Verdichtung der menschlichen Physis in „Lash“ geschieht im Moment des Todes, das Stück spielt in einer Art Limbo. Zumindest ist das eine Lesart, die Atkins’ Text ermöglicht, zugleich ist er jedoch nach anderen Seiten hin offen. Ein Leben, so viel nur steht fest, geht hier zu Ende. Wessen Leben? Das Leben des „I“ oder das des oft angesprochenen „You“, und wenn ja, wer ist „Du“?

So präsent Sexualität, Begehren, Körperlichkeit im Text auch sind, so vage bleibt die Existenz eines geliebten Gegenüber. „To you“ steht auf einem Brief, der oft groß projiziert wird. Aber die vier Personae reichen sich ihn doch nur gegenseitig hin und her. Der Rest ist pink noise.

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