Der Aktienboom scheint Gleichheit für viele zu versprechen. Tatsächlich werden die neuen Machtstrukturen verschleiert: Mythen für die Mittelschicht
Peter O. aus Esslingen hatte eine Frage, die kaum noch jemand zu stellen wagt. Man möchte ja nicht als doof dastehen. Obwohl die Antwort so manchen Unwissenden schon interessieren würde. „Hat ein Rentenfonds etwas mit Rentenversicherungen zu tun?“, fragte O. während einer Ratgeberaktion einer Boulevardzeitung.
Rentenfonds, Rentenpapiere, Renten – klingt doch verwandt. Ein Finanzexperte rückte dies telefonisch zurecht: Ein Rentenfonds sei ein Fonds aus „verschiedenen festverzinslichen Wertpapieren“. Hat mit der Rente von der BfA nichts zu tun. Das ist Volksaufklärung. Und die ist heute gefragt.
Denn in Deutschland grassiert das Geldfieber. Der Aktienmarkt boomt, sieben neue Wirtschaftszeitungen und -magazine kommen allein im ersten Vierteljahr dieses Jahres auf den Medienmarkt. Mit bunten Kursgrafiken und strahlenden Helden aus der Investmentbranche wird wöchentliche Finanzberatung geliefert – ähnlich wie die Frauenzeitschriften mit ihren Kosmetiktipps. Aktien sind neuerdings sexy. Aber auch der politische Streit um die Altersvorsorge treibe „die Aktienkultur in Deutschland weiter voran“, freut sich das Deutsche Aktieninstitut.
Rund um die Finanzmärkte entwickelt sich mit dem DAX-Fieber und den Anlegertipps eine neue Populärkultur des Geldes. Sie handelt vom alten Traum, dass Reichtum auch ohne Arbeit möglich ist – und zwar für eine Mehrheit. „Millionär“: Sogar dieser Titel scheint jetzt für Normalverdiener erschwinglich. Wer in den vergangenen 25 Jahren monatlich 420 Mark richtig angelegt hat, besitze jetzt ein siebenstelliges Vermögen, so wirbt die Fondsmanagerin Elisabeth Weisenhorn. Ihr alle dürft mitspielen im Globalkapitalismus! Das ist der neue Mythos.
Neu ist diese Verheißung nicht: Schon vor 300 Jahren, als Kaufleute, Handwerker und adelige Frauen mit Aktien zur Tulpenzucht, Landerschließung und Schatzsuche spekulierten, habe dies „die Grundsätze des Kapitalismus wie Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Plackerei auf den Kopf gestellt“, schildert der US-amerikanische Finanzhistoriker Edward Chancellor. Einzelne Spekulanten trugen hohe Gewinne heim. Die Mehrheit hatte allerdings nichts davon – damals wie heute. Wohlstand für alle bleibt ein Traum.
Die Entzauberung muss schon bei der geläufigen Bebilderung des Börsenfiebers beginnen: Denn obwohl die Finanzgazetten ununterbrochen mit neuen Tipps aufwarten, wird kein Kleinanleger seine Depots ständig umschichten. Im Gegenteil, Aktienkäufe lohnen sich für Kleinanleger vor allem dann, wenn sie ihre Depots mittelfristig unangetastet lassen – nicht zuletzt, weil bei kurzfristigen Spekulationen Einkommenssteuern auf Kursgewinne fällig werden.
Auch die Fernsehbilder von gestikulierenden, schreienden Börsenmaklern trügen – die meisten Finanztransaktionen laufen längst global vernetzt und totenstill über Computersysteme, ohne jeden direkten zwischenmenschlichen Austausch.
Vor allem aber: Aktionäre und Fondsbesitzer sind nur eine kleine Minderheit in Deutschland. Die meisten Haushalte besitzen zwar Lebensversicherungen und Spareinlagen, aber weniger als die Hälfte der Haushalte hat Wertpapiere. Am verbreitetsten sind darunter wiederum festverzinsliche Wertpapiere. Nur jeder siebte Deutsche besitzt überhaupt Fondsanteile oder Aktien. Nimmt man nur die Aktionäre, liegt deren Bevölkerungsanteil mit rund acht Prozent weit unter dem in Großbritannien (23 Prozent) und den USA (25 Prozent).
Dass die Gesellschaft für die Schwachen nicht besser wird, wenn nur möglichst viele Leute Aktien haben, zeigt das Beispiel in den USA: Dort verschärfen sich die Einkommensunterschiede von Jahr zu Jahr, obwohl jeder vierte Aktien hält.
Die Mehrheit in Deutschland hat nichts vom Boom auf den Aktienmärkten. Doch das ist nur ein Aspekt der neuen Popkultur des Geldes. Ein anderer Aspekt ist vielleicht noch wichtiger: Während die Finanztipps boomen, wird die Frage nach tatsächlicher Macht und Ohnmacht auf dem Geldmarkt kaum noch gestellt.
Was auch daran liegt, dass die Frage immer schwerer zu beantworten ist. Die Steuerpolitik der Grünen ist ein schlagendes Beispiel für diese neue Unsicherheit. Mit der rot-grünen Unternehmenssteuerreform können Aktiengesellschaften ihre Beteiligungen an anderen Aktiengesellschaften möglicherweise demnächst steuerfrei verkaufen. Eine solche Begünstigung sei durchaus mit einem Grundverständnis als „linke Partei“ vereinbar, wirbt der grüne Finanzpolitiker Klaus Müller. Die finanziellen Vorteile für die AGs kämen letztlich „vielen Kleinaktionären zugute. Auch Menschen mit geringem Einkommen kaufen ja Aktien“, meint Müller.
Damit löst Müller die alten Frontlinien zwischen Unternehmen und Beschäftigten auf. Denn wer hat nun die Macht: die Unternehmer? Die Analysten? Oder die Aktionäre? Haben alle die Macht? Oder keiner? Und vor allem: Wer ist verantwortlich?
Die Person von George Soros ist ein gutes Beispiel für diese neue Ambivalenz der Macht: Soros hat mit seinen Spekulationen Milliarden verdient und tritt gleichzeitig als wohltätiger Stifter und heute sogar scharfer Kritiker der ungebremsten Finanzmärkte auf.
Doch wenn niemand mehr die Machtfrage beantwortet, dann wird auch die Frage der politischen Veränderbarkeit kaum noch konkret diskutiert. Vielleicht ist das der entscheidende Sprung: Die komplexen Strukturen des Finanzmarktes sind für eine Mehrheit kaum noch zu vermitteln und zu begreifen – im Unterschied zu den alten Fronten zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten.
Welche Gewerkschaft könnte schon breit vermitteln, wieso der Handel mit Derivaten ungerechtfertigte Währungsbewegungen auslösen und damit eine nationale Volkswirtschaft schwächen kann? George Soros beispielsweise bezeichnet das Fehlen von Deckungsbedingungen für Derivate als eins der ernsthaften „systemischen Risiken“ für den Weltmarkt.
Die meisten Leute können und wollen nicht mitreden in solchen Strukturdiskussionen. Sie haben genug damit zu tun, sich im Greifbaren zurechtzufinden: im eigenen Arbeitsalltag. Die Tatsache, dass die Zusammenhänge der Finanzmärkte medial schwer zu vermitteln sind, kann so am Ende indirekt zu einer Art politischer Entmündigung führen.
Fast schon rührend mutet es daher an, wenn die Bild-Zeitung zur Aufklärung beitragen will: „Steigen Aktien-Kurse über eine längere Zeit, heißt das ‚Hausse‘ (gesprochen Oße). Das Gegenteil nennen die Anleger ‚Baisse‘ (Bäße)“. Wer schon kein Geld für den Aktienmarkt übrig hat, der soll die Worte wenigstens anständig aussprechen können.
Barbara Dribbusch
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