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Archiv-Artikel

Der Abschied vom Anzug

Der Dresscode der Globalisierung wird überall respektiert: Anzug und Krawatte, in Politik wie in Geschäft. Dass es damit bald vorbei sein könnte, zeigt die neuartige Kleiderwahl der Staatschefs von Bolivien, Chile, Iran oder – Deutschland

von ARNO FRANK

Unlängst ist auch dem US-Nachrichtenmagazin Newsweek aufgefallen, dass die gewohnte Ordnung der Dinge irgendwie ins Rutschen gekommen ist. Staatenlenker wie George W. Bush, Tony Blair oder Jacques Chirac träten zwar auch weiterhin verlässlich mit Anzug und Krawatte vor die Kameras. Inzwischen aber würden weltweit immer mehr Politiker an einer bewussten Unterwanderung der üblichen Kleiderordnung Gefallen finden, von Hugo Chávez aus Venezuela über den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad – bis zu Angela Merkel, deren formlose Anzüge und „no-style hair“ auf die „Ostblockwurzeln“ der deutschen Bundeskanzlerin zurückzuführen seien, wie sich Newsweek mokierte.

Dabei wird ihr Kleidungsstil hierzulande gerne als Signal für die betont sachliche Politik gewertet, die die Kanzlerin womöglich gerne machen und die sie deshalb auch verkörpern will. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der sich in einer anderen Richtung zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

Gerhard Schröder trug so oft und gerne Anzüge der italienischen Edelmarke Brioni, dass ihm seine Vorliebe für teuerstes Tuch bald den diskreditierenden Beinamen „Kaschmir-Kanzler“ einbrachte. Damit hatte er gegen eine informelle Kleiderordnung verstoßen, die eine bestenfalls dezente Andeutung von Individualität gestattet; für sozialdemokratische Politiker kommt hier ohnehin nur ein roter Schal in Frage, wie wir ihn derzeit wieder an Franz Müntefering besichtigen können.

Mit seinen sattsam bekannten Turnschuhen hatte Joschka Fischer im Hessischen Landtag noch jugendlichen Elan und einen Bruch mit den Konventionen signalisieren wollen, während ein Helmut Kohl im Kaukasus mit der Strickjacke seinen filzpantoffeligen, paternalistischen und sehr bürgerlichen Regierungsstil in Szene setzte.

Im Zeichensystem spezifisch nationaler Etikette also ist das Legere schon oft als politisches Zeichen verwendet worden – auch wenn im jüngsten polnischen Wahlkampf ein allzu weltläufiger Borsalino-Hut seinen Träger entscheidende Stimmen gekostet haben mag. Im Labyrinth internationaler Dresscodes allerdings wird allzu individuelle Lässigkeit generell als Nachlässigkeit bewertet.

Auf Weltwirtschaftsgipfeln und anderen hochkarätigen Versammlungen auf internationaler Ebene dominiert der Anzug in gedeckten Farben – eine Uniform der Seriosität, die, von geringen Modifikationen abgesehen, auf den „London Business Suit“ der 20er-Jahre zurückgeht.

Seit mehr als 80 Jahren also kommt um den Anzug nicht herum, wer weltweit Geschäfte machen oder sein Land vertreten will. Ein eindrucksvolles Dokument dieser Erkenntnis ist von Kemal Atatürk überliefert – er schrieb, nachdem er das in jeder Hinsicht rückständige Osmanische Reich in eine laizistische Republik überführt hatte: „Ist unsere Kleidung zivilisiert? Eine internationale Kleid ist würdig und passend für unsere Nation, und wir werden sie auch tragen. Stiefel und Schuhe an unseren Füßen, Hosen an unseren Beinen, Rock und Krawatte, Jacke und Weste.“ 1925 wurden in der Türkei „klerikaler Gewänder“ wie Pluderhosen und Turban verboten, das Tragen der traditionellen Kopfbedeckung wurde gar zum Delikt: „Es war notwendig, den Fes abzuschaffen, der auf den Köpfen unserer Nation als ein Zeichen von Ignoranz, Fanatismus und Hass von Fortschritt und Zivilisation saß.“

Als überall verständliches Symbol sowohl weltlicher wie auch ziviler Macht hat sich der Anzug seitdem als ideale Uniform der Globalisierung etabliert – er setzt einen Standard gegenseitiger Wertschätzung, ohne den diplomatische Begegnungen „auf Augenhöhe“ kaum mehr denkbar sind.

Daran hielten sich, während des Kalten Krieges, sogar die Sowjets. Alles andere war entweder belächelte Folklore – oder Ausdruck einer betonten Dissidenz zu westlich geprägten Zeichensystemen, was sich höchstens Vertreter besonders bevölkerungsreicher Subsysteme leisten konnten, Mao also oder der indische Ministerpräsident Nehru mit seinem blockfreien Selbstbewusstsein; heute regiert in Neu-Delhi mit Manmohan Singh übrigens ein Sikh, der auch auf internationalem Parkett nicht auf die Tradition verzichtet und konsequent Turban trägt.

Wenn der PLO-Führer Jassir Arafat mit grüner Uniformjacke und schwarz-weißem Palästinensertuch in Camp David Hände schüttelte, wurden diese politischen Accessoires in ihm gewogenen Kreisen immer auch als Zeichen der Solidarität mit den Unterdrückten gewertet.

Und ein anderer Exot, der afghanische Präsident Hamid Karsai, präsentiert sich – mit dem Umhang der Usbeken, der Lammfellmütze der Tadschiken und den Pluderhosen der Paschtunen – wie eine bunte Personifikation seiner Heimat; damit die Geberländer für ihr Geld auch etwas geboten bekommen, und sei’s nur Lokalkolorit. Mithalten kann da nur noch Libyens „Oberst“ al-Gaddafi, dessen Vorliebe für farbenfrohe Frauenklamotten fast schon so manische Züge angenommen hat wie der Hang früherer südamerikanischer Putschgeneräle zu Fantasieuniformen.

Dort, in Südamerika, greift inzwischen das Laisser-faire immer mehr um sich. Evo Morales etwa, der neu gewählte bolivianische Präsident, trägt selbst bei Staatsbesuchen in Brüssel oder Peking am liebsten eine zerknautschte Kunstlederjacke über farbenfrohen Sweatshirts und sagt: „Ich komme aus dem Volk, ich kleide mich wie das Volk.“ Sein venezolanischer Amtskollege Hugo Chávez spielt zwar gerne mit Che-Guevara-Symbolik, wird aber selten ohne sein knielanges rotes Guayabera-Shirt gesichtet, unter dessen weiten Falten die kugelsichere Weste kaum auffällt. Auch die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet hält’s mit Merkel’schem Pragmatismus und trägt hin und wieder T-Shirt statt Hosenanzug.

Interkultureller Kommunikationsverweigerer Nummer eins aber ist ohne Zweifel Mahmud Ahmadinedschad – der umstrittene iranische Präsident setzt sich mit betont kleinbürgerlicher Kleidung von den Mullahs in ihren wallenden Gewändern ab, ohne sich freilich westlicher Garderobe anzupassen. Selbst seine Rede auf der UN-Vollversammlung in New York bestritt der Iraner mit seinem „Ahmadinedschad-Jackett“, einer billigen Baumwollsportjacke. Imitate des Stücks sollen auf den Basaren Teherans derzeit der Renner sein.

Ausgerechnet jetzt, da die Globalisierung ihrer Bestimmung als neue Weltordnung zustrebt, scheint ihre Kleiderordnung nicht mehr zu gelten – frei nach dem neunten Statement aus der Firmenphilosophie des Globalisierers Google: „Man kann auch ohne Anzug seriös sein.“