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Der Abgang der Phantasten

Kolumbien hat das Siegen (2:0 über die Schweiz) nicht verlernt, darf aber die Heimreise antreten  ■ Aus Palo Alto Matti Lieske

„Kolumbien ist ein phantastisches Team“, staunte der Schweizer Abwehrspieler Dominique Herr nach dem 0:2 gegen die Südamerikaner, und Ciriaco Sforza fügte nicht ohne Schadenfreude hinzu: „Aber wir fahren zum Achtelfinale und sie in die Heimat.“ Genau das hatte er auf dem Weg in die Halbzeitkabine schon dem mistelköpfigen Carlos Valderrama erzählt, gegen den er seit der 43. Spielminute einen tiefen Groll hegte. Da hatte Valderrama seinem lästigen Opponenten hinter dem Rücken des Schiedsrichters einen Ellbogenhieb ins Gesicht verpaßt, der auch dem Linienrichter entging, obwohl sich die Szene direkt vor dessen Nase abspielte. Während Sforza, noch am Boden liegend, um Fassung rang, führte Valderrama (Sforza: „Ein hervorragender Spieler, aber im Kopf kann es bei dem nicht stimmen“) auf der anderen Seite des Feldes einen Freistoß aus, und Gaviria köpfte den Ball ins Netz.

Verdienter Lohn zwar nicht für Valderramas schändliche Missetat, aber für das hoch überlegene Spiel der Kolumbianer, die nach ihrem Aussetzer gegen die USA wieder das System spielten, mit dem sie vor der WM in 42 Spielen nur zweimal verloren hatten. Genutzt hat es ihnen nichts mehr. „Mit immensen Illusionen und immensen Erwartungen“ (Abwehrspieler Mendoza) gestartet, landete Kolumbien nach Niederlagen gegen Rumänien und die USA mit nur drei Punkten auf dem letzten Platz der Gruppe A und darf als erster der Favoriten die Koffer packen. „Wir haben in den ersten beiden Spielen sehr armselig gespielt“, befand Stürmer Faustino Asprilla, der eigentlich einer der großen Stars dieser WM werden wollte, „heute spielten wir jedoch sehr gut. Darum ist unser Kummer noch größer.“

Groß war auch der Kummer der vielen kolumbianischen Fans im Stanford-Stadion von Palo Alto. Sie trugen das schier Unglaubliche jedoch mit Fassung und bedachten bei der Vorstellung der Mannschaften nicht nur die Spieler, sondern sogar Trainer Francisco Maturana mit Beifall, während etwa die brasilianischen Anhänger ihren Trainer Parreira grundsätzlich auspfeifen, obwohl doch das Team immer gewinnt.

Maturana, der schon vor der WM einen Job beim berüchtigten Jesus Gil y Gil als Trainer von Atletico Madrid angenommen hat, legte sein Amt als Nationaltrainer nach acht Jahren nieder, wohlgemerkt nicht wegen des schlechten Abschneidens in den USA, sondern lange geplant. Er war bitter enttäuscht, daß seine Mannschaft nicht „mit dem Trikot im Herzen“, wie es Diego Maradona ausdrückt, sondern „ohne Gefühl“ angetreten war: „Wenn du nicht emotional beteiligt bist, beeinträchtigt das alles, was du tust.“ Immerhin konnte der 44jährige Zahndoktor zufrieden sein, daß das von ihm geprägte System wenigstens in seinem letzten Spiel noch einmal funktionierte.

Die Schweizer zogen sich nicht, wie Rumänien und die USA, zurück, sondern griffen die Kolumbianer schon an der Mittellinie an. Damit zermürbten sie sich schnell und wurden gnadenlos ausgespielt. Kolumbiens Pässe kamen wieder wie am Schnürchen, die Mannschaft spielte über die Flügel, der bis dahin so enttäuschende Asprilla trumpfte auf, nur mit dem Toreschießen taten sich Valderrama, der selbst auf der Torlinie noch einen Paß spielt, und seine Kumpane erneut schwer.

Nach Gavirias Treffer in der 45. Minute dauerte es trotz vieler Chancen bis zur letzten Minute, ehe Harold Lozano das 2:0 gelang. „Das Spiel war zwei Minuten zu lang“, grämte sich der Schweizer Coach Roy Hodgson hernach, „eine Minute am Ende der ersten Halbzeit und eine Minute am Ende der zweiten.“

Die Schweiz war so damit beschäftigt, den kolumbianischen Kombinationsfluß wenigstens notdürftig zu stören, daß sie überhaupt nicht dazu kam, ihr gegen Rumänien so imposantes Angriffsspiel aufzuziehen. Torjäger Stephane Chapuisat trat nur einmal in Erscheinung, als er kurz vor Lozanos Tor den Ausgleich auf dem Fuß hatte, aber den Ball frei vor Oscar Cordoba, der erneut zappeligen Higuita-Karikatur im Tor der Kolumbianer, ins Blaue drosch.

„Mangelnde Frische“, machte Alain Sutter, der selbst mit einem mächtig schmerzenden gebrochenen kleinen Zeh spielte, für die augenfällige Unterlegenheit der Schweizer verantwortlich. Drei Spiele auf höchstem Niveau in so kurzer Zeit seien einfach zuviel, aber die Schweiz müsse auf höchstem Niveau spielen, sonst habe sie keine Chance. Zum Glück haben die eidgenössischen Füßler bis zu ihrem Achtelfinalspiel am Samstag in Washington reichlich Zeit, sich zu erfrischen, und einen Trost gibt es schon jetzt für Dominique Herr und Konsorten: Wesentlich phantastischere Gegner als die Kolumbianer am Sonntag können eigentlich kaum noch kommen.

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