piwik no script img

Depressive Migranten"Viele glauben an den bösen Blick"

Psychisch erkrankte Migranten werden falsch behandelt, wenn Ärzte wenig von den kulturellen Eigenarten der Patienten wissen, sagt Meryam Schouler-Ocak. Die Leiterin des Berliner Bündnisses gegen Depression arbeitet daher mit Dolmetschern

Interview von Nana Heidhues

taz: Frau Schouler-Ocak, zu Ihnen in die Klinik kommen Deutsche und Migranten mit psychischen Erkrankungen. Gibt es da Unterschiede?

Meryam Schouler-Ocak: Psychische Beschwerden werden bei Migranten meist viel später erkannt als bei Deutschen. Oft liegt das an Verständigungsproblemen. Ein Psychiater muss den Patienten genau verstehen, um die richtige Diagnose stellen zu können. Deshalb arbeiten wir mit professionellen Übersetzern. Ganz wichtig ist, dass der Dolmetscher auch den kulturellen Hintergrund kennt, um Unterschiede im Krankheitsverständnis vermitteln zu können. Beschwerden können je nach Kultur ganz verschieden ausgedrückt werden.

Bild: Privat
Im Interview: 

Meryam Schouler-Ocak ist Oberärztin an der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus. Zudem leitet sie das 2005 gegründete Berliner Bündnis gegen Depression, das sich besonders auch an Migranten richtet. Im Rahmen der Woche für seelische Gesundheit organisiert das Bündnis am Freitag in der Urania die Informationstagung "Berlin Brain 2007 - Die Hölle im Kopf und wie man ihr begegnen kann".

Woche für die kranke Seele

Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit - psychische Erkrankungen beginnen oft mit scheinbar harmlosen Anzeichen. Doch ohne die richtige Behandlung können sie zu ebenso schwer wiegenden Krankheiten führen wie körperliche Schmerzen. Unter dem Motto "Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit" läuft derzeit die erste "Berliner Woche der seelischen Gesundheit". Die Initiatoren, ein Bündnis aus Selbsthilfegruppen, Ärzteverbänden und Forschungseinrichtungen, will der nach wie vor hohen Tabuisierung psychischer Erkrankungen etwas entgegensetzen und Hilfsangebote für Betroffene vorstellen.

"Seelische Störungen zählen mittlerweile zu den häufigsten Krankheiten in unserer Gesellschaft" sagt Wolfgang Gaebel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Von etwa 15 Prozent aller Deutschen wisse man, dass sie im Laufe des Lebens von Depressionen betroffen seien, doch die Dunkelziffer sei hoch, sagt Gaebel, der die Aktionswoche mit veranstaltet. "Viele Patienten suchen erst gar keinen Arzt auf, sei es aus Unwissenheit, Verdrängung oder Schamgefühl".

Die Aktionswoche soll dazu beitragen, dies zu ändern. Bei mehr als 70 Veranstaltungen in der ganzen Stadt können sich Interessierte und Betroffene noch bis Sonntag darüber informieren, was passiert, wenn die Seele krank wird.

Das Themenspektrum ist breit: Von Fachgesprächen zu Schizophrenie, Angststörungen oder Anti-Stigma-Arbeit über Tanz- und Filmvorführungen bis hin zu Informationsabenden über kulturelle Unterschiede im Verständnis psychischer Krankheiten oder den Zusammenhang zwischen seelischem Wohlbefinden und einem gesunden Wohn- und Arbeitsumfeld.

Parallel bieten Selbsthilfegruppen und Fachkliniken offene Sprechstunden an, unter anderem zu Themen wie HIV und Psyche oder Depression bei Lesben und Schwulen.

Die Initiatoren versuchen dabei besonders Zielgruppen wie Jugendliche und Migranten zu erreichen. So können Schüler am heutigen Freitag bei einer Tagung zu Hirnforschung und Psychologie "Einblicke ins Ich" erhalten. Samstag lädt die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Buch zum Tag der offenen Tür.

Für Migranten, bei denen psychische Erkrankungen oft lange Zeit unentdeckt bleiben, bietet das "Berliner Bündnis gegen Depression" Hilfsangebote und spezielle Übersetzungsdienste an (siehe Interview). Den Abschluss der Aktionswoche bildet am Sonntag der erste Berliner "Körper und Seele Lauf" im Tiergarten.

Die Initiatoren sehen die Veranstaltung als Pilotprojekt. "Das Ziel ist, die Woche der seelischen Gesundheit in den kommenden Jahren als festen Termin deutschlandweit zu etablieren", so Gaebel.

Zum Beispiel?

Im mediterranen Kulturraum gibt es die Vorstellung, dass Krankheiten von außen in den Körper eindringen und ihn ganzheitlich krank machen. Türkische Patienten beschreiben ihre Schmerzen daher meist nicht so lokal. Statt zu sagen, "mein Rücken tut weh", sagen sie etwa, "mein ganzer Körper tut weh". Die Idee einer rein äußerlichen Ursache gilt auch bei psychischen Krankheiten. Viele glauben, jemand habe sie verflucht oder mit dem bösen Blick bedacht. Dafür gibt es das Bild des "Cin", des "Dämonchens", der vom Menschen Besitz ergreift und ihn krank macht.

Wie gehen deutsche Ärzte damit um?

Es kommt vor, dass solche Aussagen als psychotische Krankheitssymptome gewertet werden und eine falsche Behandlung eingeleitet wird. Deshalb ist Aufklärungsarbeit sehr wichtig. Ärzte sollten die kulturellen Eigenarten kennen, auch damit die Patienten sich ernst genommen fühlen.

Können nicht die Kinder der Patienten übersetzen?

Nein, das ist sehr problematisch. Ich habe als Kind ständig für meine Eltern übersetzt, aus meiner heutigen Sicht als Ärztin erscheint mir das unmöglich. Es fängt schon beim Begriff "Depression" an. Viele Kinder wissen gar nicht, was das ist, wie sollen sie es übersetzen? Als Arzt können Sie auf dieser Basis keine vernünftige Diagnose stellen. Außerdem ist es eine enorme Belastung für Kinder, über die Krankheiten ihrer Eltern zu sprechen.

Gibt es psychische Erkrankungen, die bei Migranten besonders häufig oder selten auftreten?

Das ist interessanterweise auch eine Frage des Alters. Für die erste Generation türkischer Migranten gab es beispielweise einen Gesundheits-Check, es durften nur körperlich und psychisch Gesunde kommen. Tatsächlich tritt Schizophrenie bei Migranten der ersten Generation sehr viel seltener auf als bei Deutschen. Aber viele Migranten leiden im Alter an psychosomatischen Beschwerden.

Hat das mit ihrer Lebenssituation in Deutschland zu tun?

Ja. Viele kamen mit festen Plänen, wollten irgendwann in die Heimat zurück. Mit Mitte fünfzig stellen sie nun fest, dass sich alles anders entwickelt hat, dass ein Zurückgehen nicht so einfach ist oder dass ihnen ihre Kinder fremd geworden sind. Sie entwickeln psychosomatische oder depressive Störungen. Hinzu kommt, dass Ältere wegen der Sprachbarriere oft jahrelang nicht zum Arzt gehen sind und sich Erkrankungen chronifizieren.

Und die jüngeren Generationen?

Das Erkrankungsmuster unter Migranten passt sich der einheimischen Bevölkerung zunehmend an. Auffällig ist aber, dass bei türkischen Mädchen zwischen 16 und 21 die Suizidrate doppelt so hoch ist wie bei gleichaltrigen deutschen Frauen. Das hängt eng mit den tradierten Wertesystemen der Familien zusammen. Die Töchter wollen genauso freiheitlich leben wie ihre deutschen Freundinnen und machen enorme Konflikte durch. Für manche ist Selbstmord der einzige Ausweg.

Erreichen Sie mit Ihrer Arbeit Frauen und Männer gleichermaßen?

Wir haben mehr Frauen in Behandlung. Männer leiden genauso an psychischen Erkrankungen, aber sie nehmen Hilfsangebote weniger in Anspruch. Türkischen Männern wird quasi von der Wiege an beigebracht, dass sie stark sein müssen, keine Gefühle zeigen sollen. Das gilt aber für viele deutsche Männer auch.

Geht die türkische Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen anders um als die deutsche?

Die Stigmatisierung ist in der Türkei viel ausgeprägter als hier, vor allem in den unteren sozialen Schichten. Etwa 90 Prozent der ersten Generation türkischer Migranten kommen aus der ländlichen Türkei. Bei ihnen sind Depressionen oft ein Tabu.

Wie erreichen Sie diese Menschen?

Wir haben viele Kontakte zu Hausärzten und veröffentlichen Infobroschüren in verschiedenen Sprachen. Viel läuft auch über Mundpropaganda. Besonders schwierig ist es, Menschen zu erreichen, die illegal hier leben. Gerade sie sind hohen psychischen Belastungen ausgesetzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!