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Denn sie wissen nicht, wen sie wollen: Die deutschen Hochschulen und die freie Auswahl ihrer Studierenden

Nun dürfen sie es also, die deutschen Universitäten. Seit rund einem Jahr ist ihnen erlaubt, was für Bäcker und Schreiner immer schon ganz normal war: selbst zu entscheiden, wen sie ausbilden möchten.

Bisher galten bei der Vergabe der Studienplätze im wesentlichen zwei Prinzipien: In vielen Fächern nahmen die Hochschulen einfach alle, die studieren dürfen und wollen, in manchen wurden ihnen die mit den besten Abiturnoten oder der längsten Wartezeit auf dem Buckel zugeteilt. Seit per Staatsvertrag das Hochschulrahmengesetz geändert wurde, gibt es noch ein drittes Prinzip. Die Hochschulen dürfen in bundesweit zulassungsbeschränkten Fächern zwanzig Prozent der Studienplätze nach eigenem Ermessen vergeben. Geht es nach dem Beirat der Dortmunder Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätze (ZVS), sollen es in Zukunft noch mehr werden. Der Startschuss für den Wettlauf um die besten Studierenden ist gefallen.

Die Hochschulen aber sind in den Startblöcken hocken geblieben. Kaum eine hat sich auf den Weg gemacht, die neue Freiheit zu nutzen, so Bernhard Scheer, der Sprecher der ZVS. In diesem Semester waren es gerade einmal vierzehn Prozent aller Fachbereiche. Die meisten sagen, dass es sich gar nicht lohnen würde loszulaufen. Auswahlgespräche, so hat die Gesellschaft für Psychologie errechnet, verursachen einen Arbeitsaufwand von sechs Stunden pro zu vergebenen Studienplatz. Zu viel der Mühe, heißt es, zumal die Hochschulen lediglich aus den Bewerbern aussuchen dürfen, die übrig bleiben, nachdem die Notenbesten schon verteilt wurden. Für Klaus Landfried, den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, ist das neue System deshalb ein „kastriertes Verfahren“.

Die Einwände klingen einleuchtend, und doch muss das Zögern an den Hochschulen überraschen. Jahrelang haben sie mehr Autonomie gefordert. Nun, da ihr Ruf erhört wurde, wollen sie nicht mehr. Erstaunlich, dass sie nicht zunächst den hingestreckten Finger ergreifen, um später die ganze Hand zu fordern. Das findet auch Georg Schreyögg, der Prodekan der Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin. An seinem Fachbereich wird seit dem Sommersemester ein Teil der Studienplätze in der Betriebswirtschaftslehre durch Auswahlgespräche vergeben. Wert legen die Wirtschaftswissenschaftler vor allem auf die Artikulationsfähigkeit und die Motivation der Bewerber. Auch der berühmte Blick über den Tellerrand ist gefragt. So sollten die künftigen Führungskräfte beispielsweise wissen, was eine „NGO“ ist.

Zwei Gruppen hat Schreyögg unter den Studienbewerbern ausgemacht: Viele streben nur deshalb ein BWL-Studium an, weil ihnen nichts Besseres eingefallen ist. Eine große Gruppe jedoch ist wirklich motiviert und kann ihren Studienwunsch auch begründen – und diese Bewerber haben gute Chancen, in den Auswahlverfahren einen der begehrten Studienplätze zu ergattern.

Hinter der Zurückhaltung an den meisten anderen Fachbereichen wird ein handfestes Problem deutlich: Die Universitäten wissen gar nicht, wen sie überhaupt wollen. Das mussten sie bislang auch gar nicht – die Studierenden waren ja einfach da. Auswahl, das würde zu allererst Auseinandersetzung mit den potenziellen Studierenden bedeuten. So etwas wurde an vielen deutschen Hochschulen bislang weitgehend vermieden.

Während Inhalt und Form der Lehre seit Jahren Dauerthemen sind, wird kaum je darüber nachgedacht, wem diese Bildung zukommen soll. Dabei betrifft die Frage nach den Studierenden und ihren Zielen das Selbstverständnis der einzelnen Fachbereiche. Wer in Auswahlgesprächen fragen will, was die Bewerber mitbringen, muss auch sagen können, was er selbst zu bieten hat. Soweit ist die oft geforderte Profilbildung aber häufig noch nicht fortgeschritten. Und so dürfte die Fachbereiche, angesichts von Auswahlgesprächen, das gleiche mulmige Gefühl beschleichen, wie die zukünftigen Kandidaten. Um sich nicht mit den Studierenden auseinandersetzen zu müssen, wählen sie, nicht auszuwählen. Man bleibt beim gut eingeübten Aneinandervorbeileben.

Tatsächlich könnten die neuen Verfahren Bewegung in die Hochschulen bringen. Als Orientierungshilfe würden sie nicht alleine den Bewerbern nützen. Auch die Hochschulen könnten davon profitieren. Das bestätigt auch Georg Schreyögg. Mit Auswahlgesprächen wird die Anonymität, die insbesondere an den großen Fachbereichen herrscht, durchbrochen. „Man lernt die Lebenssituation der Studierenden, ihre Wünsche und Erwartungen kennen.“ Dabei hat er festgestellt, dass viele Bewerber keineswegs „Greenhorns“ sind, sondern selbstbewusste junge Menschen, die genau wissen, was sie wollen.

Von solchen Erkenntnissen sind viele Fachbereiche noch weit entfernt. Klaus Landfried hat das jüngst bestätigt. Er schlägt eine Art Studium auf Probe vor. Weil die Universitäten nicht wissen, welche Studierende sie haben möchten, sollen sie erst einmal alle annehmen, um die ungeeigneten nach zwei Semestern per Test auszusieben. Es kann also weitergehen mit dem Aneinandervorbeileben. STEPHAN ERTNER

Der Autor (27) ist diplomierter Soziologe. Er lebt in Berlin

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