: Den Weg in die Freiheit gestempelt
Einige deutsche Juden haben den Holocaust überlebt, weil sie in den Untergrund gingen. Sie hatten Mut, Helfer und viel Glück. Zwei Überlebende erzählen nun ihre abenteuerlichen Lebensgeschichten
Sie nannten sich „U-Boote“: Juden, die während der nationalsozialistischen Diktatur im Untergrund lebten. Bis heute weiß niemand genau, wie vielen von ihnen die Flucht vor der Deportation gelang. Die meisten wurden vermutlich aufgegriffen und ermordet.
Zwei junge Männer, der eine Jahrgang 1926, der andere vier Jahre zuvor geboren, haben die Judenverfolgung im Berliner Untergrund überlebt: Eugen Herman-Friede und Cioma Schönhaus. Fast 60 Jahre später blicken sie in zwei höchst unterschiedlichen Autobiografien zurück. Beide Männer haben überlebt, weil sie entschlossen handelten, Mut hatten – und großes Glück. So gelang es ihnen, nicht nur den Nazis zu entkommen, sondern sogar aktiv Widerstand zu leisten.
Obwohl nur vier Jahre zwischen ihnen liegen, verlaufen ihre Lebenswege höchst verschieden. Eugen Herman-Friede ist 1933 gerade sieben Jahre alt. Er hat, aufgewachsen in einem christlich geprägten Haus, keine Ahnung davon, was überhaupt ein Jude ist. Seine jüdische Mutter lebt schon seit Jahren mit seinem christlichen Stiefvater zusammen. 1935 machen die Nürnberger Rassegesetze Eugen plötzlich zum Juden. Und da auch sein leiblicher Vater Jude gewesen ist, gilt er sogar als „Volljude“, der seine Bürgerrechte verliert.
Herman-Friede erzählt seine Geschichte zwischen Kinderspielen, Pubertät und der Abenteuerlust des Jugendlichen ohne jede Bitterkeit, obwohl er dazu allen Grund hätte: Er darf nicht aufs Gymnasium, nicht mehr Fahrrad fahren, keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen – und darf schließlich überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Stattdessen muss er zur Zwangsarbeit auf den Friedhof. Im Januar 1943 schickt ihn schließlich sein Stiefvater in die Illegalität, Bekannte und Unbekannte helfen beim Untertauchen. Der Junge stolpert quasi in den Untergrund, der seine Rettung ist.
Ganz anders Cioma Schönhaus: Seine Erinnerungen setzen im Jahr 1941 ein, als er in einem Arbeitslager der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ bei Bielefeld ist. Genau wie der junge Herman-Friede will auch Schönhaus den Nazis äußerlich ähneln, freilich aus einem ganz anderen Grund: Die Knickerbocker der Jugendlichen werden bei ihm zu Reithosen „nazifiziert“, um unauffälliger zu erscheinen.
Der junge Grafiker entscheidet sich bewusst für das Risiko, ohne „Judenstern“ durch Berlin zu streifen – er will leben. Als 20-Jähriger schwärzt er sogar einen besoffenen Polizisten an, der Gäste eines Lokals als Juden verdächtigt. Er selbst geht groß in Luxusrestaurants aus, weil er sich sagt, dass dort am allerwenigsten nach Juden gesucht wird. Der Zwangsarbeiter Schönhaus kauft sich später auch ein Segelboot und fährt damit bei Gewitter auf der Havel spazieren, dabei hat er nie zuvor ein Boot gesteuert. Nach der Deportation seiner Eltern und Verwandten verkauft er die Einrichtung der elterlichen Wohnung, obwohl die Zimmer von den Nazi-Bürokraten versiegelt wurden. So kommt er zu Geld und kann eine Zeit lang im Untergrund überleben.
Das alles sind klar kalkulierte Entscheidungen – und so beschreibt Schönhaus sie auch. Tatsächlich hat er genau richtig gehandelt: Sein Mut zum Risiko, seine Weigerung, sich gesetzestreu in ein Lager deportieren zu lassen, hat ihm letztlich das Leben gerettet – und nicht nur sein eigenes. Denn 1942, inzwischen ist Schönhaus längst untergetaucht, bittet ihn Edith Wolff darum, den Stempel auf einem Entlassungsschein der Wehrmacht so zu fälschen, dass dieser von seinem neuen jüdischen Besitzer verwendet werden kann. „Endlich kann ich mich wehren. Endlich muss ich nicht mehr tatenlos zusehen“, beschreibt Schönhaus sein Hochgefühl. Und weil er eine erstaunliche Kunstfertigkeit im Fälschen von Personalpapieren entwickelt, wird sein Name weitergegeben. Für den Widerstandskämpfer Dr. Franz Kaufmann beginnt er Ausweise en gros zu fälschen.
Cioma Schönhaus wird der Fälscher gegen den Holocaust und rettet mit seiner filigranen Arbeit dutzenden Juden das Leben – darunter wahrscheinlich auch Eugen Herman-Friede. Der ist Ende 1943 bei Freunden in Luckenwalde untergetaucht und erhält den gefälschten Werkausweis eines Labors auf den Namen Günther Hagedorn, mit Foto und „kreisrund abgestempelt“.
Auch wenn es nicht zweifelsfrei belegbar ist, ob der Pass durch Schönhaus’ Fälscherwerkstatt gegangen ist – vieles spricht dafür. Herman-Friede erhält das Papier nämlich von Werner Scharff, der in Luckenwalde die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ gegründet hat, die mit tausenden von Kettenbriefen gegen die Nazis agitiert.
Scharff selbst lebt illegal in Berlin – zeitweise zusammen mit Cioma Schönhaus. Von einer getarnten Werkstatt aus organisiert Scharff den Widerstand, während Schönhaus dort unablässig Dokumente frisiert. Ende 1944 wird die Gemeinschaft für Frieden und Aufbau von den Nazis aufgerollt. Für Eugen Herman-Friede, seine Eltern und viele andere Aktivisten beginnt ein Leidensweg durch die Gefängnisse. Werner Scharff wird ermordet, Eugens Vater nimmt sich vermutlich das Leben. Er selbst wird in den letzten Kriegstagen in Berlin aus der Haft entlassen.
Der Fälscherkönig Cioma Schönhaus aber verschwindet standesgemäß. Als die Polizei deutschlandweit nach dem „jüdischen Passfälscher“ fahndet, radelt er im September 1943 von Berlin bis an die Schweizer Grenze. Im Gepäck trägt er einen perfekt gefälschten Wehrpass und Lebensmittelkarten. Die Urlaubsscheine hat er in der Lenkstange verborgen. Da er sich den genauen Verlauf der Grenzlinie eingeprägt hat, entkommt er unerkannt.
KLAUS HILLENBRAND
Cioma Schönhaus: „Der Passfälscher“. Mit einem Nachwort von Marion Neiss. Lektorat: Walter Pehle. Scherz Verlag, Zürich 2004, 235 Seiten, 17,90 EuroEugen Herman-Friede: „Abgetaucht. Als U-Boot im Widerstand“. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2004, 255 Seiten, 14,90 Euro