: Den Wechsel gewählt
Unter Chefredakteur Christoph Keese hat sich die „Welt am Sonntag“ wie die CDU gewandelt: Sie ist jetzt stramm wirtschaftsliberal und diffus urban. Eigentlich müsste sie die Zeitung der Stunde sein
VON HANNAH PILARCZYK
„Reformer“ hat Christoph Keese mal in einem Fragebogen als den Beruf angegeben, den er sich statt des Journalismus vorstellen könnte. So, wie er arbeitet, gibt es beim Chefredakteur der Welt am Sonntag aber kaum einen Unterschied zwischen den beiden Berufen. Vor bald anderthalb Jahren wechselte Keese von der Spitze der Financial Times Deutschland (FTD) zu der Zeitung, die man bitte nicht mehr als WamS abkürzen soll. In der Berliner Zentrale des Springer Verlages angekommen, tat Keese für einige Monate erst mal das, was ihn so reizt: Er reformierte die angestaubte Sonntagszeitung.
Er gab ein neues Layout in Auftrag, wechselte Ressortleiter aus, sortierte Kolumnisten aus, legte manche Zeitungsteile zusammen und trennte andere. „Ich suche mir immer die Leute, die dynamisch, nicht statisch denken – die nicht zuschauen, sondern verändern wollen“, sagt Keese über seine Mitarbeiter. Das Ergebnis des gemeinsamen Kraftaktes gibt es seit einem Jahr für 2,20 Euro zu kaufen.
„Eine moderne, anspruchsvolle Zeitung, die ein sehr breites Publikum anspricht“, ist laut Christoph Keese das Ergebnis der Arbeit des letzten Jahres. Und tatsächlich hat sich die WamS unter seiner Führung zu einer optisch ansprechenden, vielseitigen Zeitung gewandelt, die auf ihre Herausforderin, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), inhaltlich und gestalterisch kräftig aufgeschlossen hat. Mit Christian Reiermann als Ressortleiter und Cornelia Schmergal als seiner Stellvertreterin ist der Politikteil deutlich relevanter, weil gleichzeitig informativer und pointierter geworden. Neben der Reportage über den Abzug der israelischen Siedler aus dem Gaza-Streifen findet sich hier auch das große Streitgespräch zwischen Renate Künast, Silvana Koch-Mehrin und Hildegard Hamm-Brücher über den Machtwillen von Frauen. Nur die sozialen Themen, die etwas über Verwahrlosung, Verfall und Desintegration erzählen, verstecken sich ziemlich gut.
Dafür ist die Themenbandbreite im Kultur- und im neu eingeführten Stil-Teil umso größer, werden die Salzburger Festspiele besprochen, „Sin City“ als bester Film des Sommers gefeiert und „Beck’s Gold“-Nachahmer-Biere getestet. Will man angesichts dieser Reformpakete Parallelen zur aktuellen Politik ziehen, so könnte man sagen, dass sich die WamS unter Christoph Keese wie die CDU unter Angela Merkel gewandelt hat. Sie ist jetzt stramm wirtschaftsliberal und diffus urban. Eigentlich müsste sie die Zeitung der Stunde sein. Doch wie Merkels CDU hat auch Keeses WamS ein Problem: Man weiß nicht genau, wofür sie steht.
Da sind zum Beispiel die Autoren: Bei der WamS ist man stolz auf Beiträge von Jana Hensel oder Georg Seeßlen. Doch die schreiben genauso gut und mehr für Zeit, Spiegel oder Tagesspiegel – und auch zu denselben Themen. Sogar mit der taz teilt man sich, seitdem taz-Kulturredakteur Cornelius Tittel gewechselt ist, eine Reihe von Autoren. Die eine Stimme der WamS, die man nur da und nur in der bestimmten Tonlage hört – man sucht sie vergebens. „Wir arbeiten noch daran, dass unsere Leser regelmäßig und berechenbar Artikel der Autoren finden, die sie kennen. Außerdem haben wir neue Kolumnen auf der Seite eins und im Stil-Teil eingeführt. Zudem verbessern wir die Qualität anderer Kolumnen“, sagt Keese.
Vielleicht liegt die eigenartige Profillosigkeit der WamS aber auch am Chefredakteur selbst. Das mag zunächst paradox klingen: Profillosigkeit bei Christoph Keese? Wo die FTD unter seiner Führung als erste deutsche Zeitung im Wahlkampf 2002 eine Wahlempfehlung abgegeben hat? Und er ein Buch mit dem Titel „Rettet den Kapitalismus“ geschrieben hat? Die Wahlempfehlung ist ein gutes Beispiel. In der August-Ausgabe des Journalist, des Magazins der Journalisten-Gewerkschaft DJV, sagte Keese, dass man sich in der Redaktion gegen ein so genanntes „Endorsement“ entschieden habe: „Dabei spielte auch eine Rolle, dass eine konkrete Wahlempfehlung durch die Umstände der gegenwärtigen Lage stark erschwert würde. Wegen der Kürze des Wahlkampfs und der Flügelkämpfe innerhalb aller Parteien ist nicht genau zu erkennen, wo die einzelnen Gruppierungen politisch stehen.“ In einem Leitartikel vom 7. August schrieb Keese hingegen: „Zur Wahl stehen erstens Merkels Union, zweitens die Liberalen, dritten die ohne Schröder zunächst führungslose SPD, die gescheiterte Rezepte von vorgestern herauskramen wird, viertens die in Sachen Volkswirtschaft fast kompetenzfreien Grünen und fünftens die Linkspartei als Garant für Armut und noch mehr Arbeitslosigkeit.“ – „Das eine wäre eine Position der Redaktion gewesen, wenn sie eine Wahlempfehlung abgeben würde, was sie aber nicht tut. Das andere ist meine persönliche Meinung als Autor“, sagt Keese dazu.
„Tief im Inneren hat Christoph Keese keine Meinung. Doch er hätte sie gern. Deshalb umgibt er sich am liebsten mit Neinsagern“, erklärt sich ein ehemaliger Mitarbeiter Keeses Widersprüchlichkeiten. Ähnliches gibt es aber auch in einer freundlicheren Variante zu hören. Nämlich dass Keese sehr gut über seine Schwächen Bescheid weiß und sich immer die besten Leute holt, um diese auszugleichen.
Vielleicht liegt die inhaltliche Unentschlossenheit der WamS aber auch nicht so sehr an Keese persönlich als vielmehr an einem strukturellen Problem der deutschen Konservativen: Jenseits der Wirtschaftsliberalität haben sie keinen verbindlichen Wertekanon und kein Lebensgefühl, an die sie anschließen könnten.
Am 12. Juni stand im Wirtschaftsteil (nicht auf der Meinungsseite!) der WamS ein Artikel mit der Überschrift „Warum die Mehrwertsteuer steigen muss“. Darunter ein Kasten mit der scheinbar neutralen Frage: „Sollte die Mehrwertsteuer erhöht werden, um die Lohnnebenkosten zu senken und die Sozialsysteme umzubauen? Schreiben Sie uns Ihre Meinung.“ Am selben Tag machte das Feuilleton der FAS mit einem Politikartikel auf. Sein Fazit: „Der Neoliberalismus weiß auf die wichtigen Fragen keine Antworten.“