Den Teufelskreis durchbrechen

AUS BERLIN ANTJE LANG-LENDORFF

Das Schaf sieht auf den ersten Blick harmlos aus. Ein beiger Kopf ragt aus der weichen, weißen Wolle. Die Knopfaugen schauen freundlich in die Welt. Wäre da nicht der Reißverschluss auf der Bauchseite. Stülpt man das Schaf um, wird es zum gefräßigen Wolf. Spitze weiße Zähne ragen aus dem Maul, an den Pfoten trägt er schwarze Krallen.

Das Stofftier hockt im Therapieraum der Wohngemeinschaft auf der Couch. Es ist ein Schaf im Wolfspelz, ein Wolf im Schafspelz. Gejagtes und Jäger zugleich, Opfer und Täter in einem. Wie die Jungen, die hier leben.

Montagmittag. Richard* läuft eilig den langen, verwinkelten Flur der Altbauwohnung hinunter. In seinem Zimmer, das ganz am Ende liegt, lässt er sich auf einen Stuhl fallen. Ein pummeliger 17-Jähriger mit einem freundlichen Gesicht. Wenn er lächelt, sieht man seine Zahnspange. Er will seine Geschichte erzählen und ist ein bisschen aufgeregt. „Erst wurde ich von meinem Vater missbraucht. Dann habe ich das über mehrere Jahre an den Kleinen ausgeübt.“ Es klingt einstudiert.

Jugendämter aus ganz Deutschland schicken 12- bis 18-jährige Jungen, die sexuell übergriffig wurden, nach Berlin. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus betreibt hier zwei therapeutische Wohngruppen. Manche der Jugendlichen ließen sich von kleineren Kindern anfassen. Andere brachten Jüngere dazu, mit ihnen Oral- oder sogar Geschlechtsverkehr zu haben. Die meisten wurden als Kinder selbst missbraucht.

In Richards WG leben acht Jungen. Sie alle haben nicht nur ein gestörtes Verhältnis zu Sexualität, sie sind auch lernbehindert. Morgens besuchen sie die Förderschule, nachmittags haben sie Therapie, machen Sport oder unternehmen etwas mit den Erziehern.

Viele bleiben mehrere Jahre. Sie sollen lernen, mit ihren Bedürfnissen umzugehen und sie zu steuern. „Wir wollen, dass sie irgendwann glücklich leben können, ohne andere zu verletzen“, sagt Karsten Köster, der Gruppenleiter. Männer, die wegen sexueller Delikte angezeigt werden, sind häufig schon in ihrer Jugend aufgefallen. Je früher die Hilfe ansetzt, desto eher kann man die Entwicklung beeinflussen. Köster sagt: „Die Arbeit mit den Jungen dient letztlich dem Opferschutz.“

Oralverkehr, Analverkehr. Als Kind dachte Richard, das ist normal, was sein Vater da mit ihm machte. Er lebte damals schon im Heim, sah den Vater aber regelmäßig. „Ich konnte nicht Nein sagen. Ich wusste ja nicht, dass es falsch war“, erzählt er. Onkel und Tante hätten alles mitgekriegt, aber nichts unternommen. Im Kindergarten spielte er mit einem Jungen auf der Toilette nach, was er zu Hause erlebt hatte. Das fiel auf. Trotzdem durfte der Vater den Sohn weiter im Heim besuchen, wie der Gruppenleiter Köster bestätigt.

Richard erzählt haarsträubende Dinge. Er bleibt dabei ganz ruhig, spricht langsam und bemüht sich, alle Fragen ordentlich zu beantworten. Er will es den Erwachsenen recht machen, er sucht ihre Anerkennung. Bei Gleichaltrigen gilt er deshalb als altklug. Er selbst sagt, er spiele sich manchmal als „Polizist“ auf, der andere zurechtweist, wenn sie sich nicht an die Regeln halten.

Das Kinderheim, in dem er früher lebte, war ein Bauernhof. Dort kannte er alle Verstecke, im Stall, in der Scheune. Wenn er mit einem der Jüngeren in einer Ecke saß, ließ er sich von ihm berühren. Er brachte die Kleinen dazu, ihn mit dem Mund zu befriedigen. Es flog auf. Und geschah doch wieder. Bis die Heimleitung entschied: Richard muss weg.

So kam er nach Berlin. Viele Jungen in der WG haben noch Kontakt zu ihrer Familie. Die Betreuer sprechen regelmäßig mit den Eltern. Richard will seinen Vater erst mal nicht sehen.

Seit er in der Gruppe lebt, hat er viel über sich nachgedacht. Er sollte inzwischen wissen, dass er sich Hilfe holen muss, wenn es wieder anfängt. Wenn er sich einen Plan ausdenkt. Die Betreuer hoffen es. Ausschließen könnten sie einen Übergriff nicht. „Sexualität ist seine Form, Zuwendung zu finden. Er hat es von klein auf so gelernt“, sagt Köster. Deshalb darf Richard nur in Begleitung aus der Wohnung.

Es gibt zwar strenge Regeln, eine geschlossene Einrichtung ist die WG aber nicht. Jungen, die etwa im Park Kinder vergewaltigt haben, nehmen Köster und seine Kollegen nicht auf. „Die könnten wir nicht kontrollieren“, sagt der Gruppenleiter. Die Jugendlichen in der WG hatten alle eine Beziehung zu ihren Opfern. Es waren Geschwister, andere Heimkinder, Bekannte. „Mit ihnen können wir arbeiten“, sagt Köster. Der Bedarf an solchen Einrichtungen ist höher als das Angebot. Für seine Wohngruppe gebe es doppelt so viele Anfragen wie Plätze, berichtet er.

Viele Menschen würden sicher zustimmen, dass diese Einrichtung eine sinnvolle Arbeit leistet – solange sie ihnen nicht zu nahe kommt.

Denn eigentlich wollte der Träger die WG in Reinickendorf im grünen Norden Berlins ansiedeln. Doch kurz vor der Eröffnung gründete sich eine Initiative von Eltern, deren Kinder in der Nähe in die Kita gingen. Sie sammelten Unterschriften gegen die Wohngruppe. Auch die im Bezirk regierende CDU lehnte das Vorhaben ab. „Berliner Mütter in Angst“, titelte eine Boulevardzeitung und fragte: „Wer schützt unsere Kinder vor den Sex-Tätern?“

„Das konnten wir den Jungen nicht zumuten“, sagt Köster. Sie änderten kurzfristig ihre Pläne und flüchteten in die Anonymität der Innenstadt. Mitten in Berlin, an einer vierspurigen Straße, kamen Köster und seine Jungen unter. Zwei Jahre gibt es die WG dort nun schon. Die Schulen wissen Bescheid, auch die Polizei ist informiert. Sonst kaum jemand.

Nachmittags im Wohnzimmer. Nur wenige Möbel stehen darin. Ein Fernseher vor der Couch, ein Regal, ein großer Tisch. Dort sitzt Richard und puzzelt. Stefan, ein großer, schlaksiger Junge, der erst vor kurzem in die WG zog, stellt sich dazu. „Was machst’n du da?“ Richard versteht sich gut mit ihm. Manchmal schauen sie zusammen DVD. Dann sitzen sie nebeneinander im Flur und blicken durch die Tür auf den Bildschirm. Aufs Zimmer dürfen sie nicht. „Jeder muss sich allein in seinem Zimmer aufhalten“, verkündet ein Schild auf einem Flur. „Das Bad wird abgeschlossen und bei Bedarf für Einzelne geöffnet. Zusammen dürft ihr euch nur in den Gemeinschaftsräumen aufhalten. Ihr müsst alle bekleidet sein.“

Alle Jungen hier haben Erfahrungen mit Sexualität. Was liegt da näher, als auch miteinander etwas anzufangen? Eine der Erzieherinnen, eine energische kleine Person, spricht vom „Gruppenbumsen“. Mehrmals sei das in der Vergangenheit schon vorgekommen. „Wir können die auf Reisen nicht in Doppelzimmer stecken, weil die sich sonst bespringen.“ Sie sagt das absichtlich so derb, auch vor den Jungen. Die sollen ruhig merken, dass das peinlich ist.

Sex unter den Jugendlichen muss nicht unbedingt falsch sein. Andererseits können die Betreuer nicht kontrollieren, was zwischen den Jugendlichen passiert. Findet wirklich alles freiwillig statt? Wird einer unter Druck gesetzt? Das können sie nicht ausschließen. Und müssen es deshalb unterbinden. „Wir wollen, dass sie einen normalen Umgang mit Sexualität entwickeln“, sagt Köster. Das heißt für ihn: Jemanden kennenlernen, sich verlieben. Beim Nachbarn klopfen und fragen: Hast du Lust?

Auf der Couch im Wohnzimmer liegt ein dunkelhaariger Junge. Er schaut fern, die Füße auf der Sitzfläche, den Arm lässig über die Lehne gehängt. Yassin stammt aus Syrien. Er sieht gut aus und benimmt sich so, als wüsste er das. Yassin geht regelmäßig boxen. Ein Mädchen aus der Schule habe es auf ihn abgesehen, erzählt er. „Die ist so hübsch, echt übertrieben.“ Aber sie habe zu viel über intime Sachen geredet, „übertrieben viel“. Sex sei für ihn „eine Sucht“.

Im Fernsehen läuft eine Anwaltsserie. Es geht um Frauen, die unter dem Einfluss von Drogen vergewaltigt wurden. Als die Serie vorbei ist, sagt Yassin: „Schon komisch. Man denkt: Das ist ein Hammer. Dabei hat man so was selber gemacht.“ Was genau hat er getan? „Darüber will ich nicht sprechen.“

Yassin wohnt erst seit ein paar Monaten in der Gruppe. Die Therapeuten und Betreuer müssen noch klären, was bei ihm die zentralen Fragen sind. Ging es ihm beim Missbrauch um Macht? Ist er in der Lage, sich in seine Opfer hineinzuversetzen? Inwieweit kann er sich selbst kontrollieren?

Richard scheint schon weiter als Yassin. Seit fast anderthalb Jahren lebt er jetzt in der WG. Man merkt, er hat häufig über das Thema Missbrauch geredet. Er wirkt, als habe er gelernt, damit umzugehen. Im Sommer will Richard seinen Hauptschulabschluss machen. Ein Jahr hat er noch in Berlin eingeplant, dann möchte er in der Landwirtschaft arbeiten.

Später, beim Gruppenabend, versammeln sich alle im Wohnzimmer. Große und Kleine, einer mit Basecap, ein anderer mit schwarz gefärbten Haaren. Pubertierende Jungs eben. Sie reden über eine geplante Reise nach Polen. „Ich habe ein Haus gefunden. Dort gibt es genug Einzelzimmer für alle“, sagt die Erzieherin. Die Jungen nicken. Sie schiebt den Prospekt über den Tisch. „Könnt ihr euch ja mal anschauen.“

Richard wird nicht nach Polen fahren. Zwei Wochen nach diesem Gruppenabend muss er die WG verlassen. Er hatte mit Stefan, dem Neuen, mehrmals Sex. Auf dem Flur, weil sie ja nicht zusammen ins Zimmer dürfen. Stefan wollte irgendwann nicht mehr und erzählte es den Betreuern. Übergangsweise wohnt Richard nun in der anderen Berliner Gruppe des EJF Lazarus.

„Richard wusste, dass er eine Regel verletzt, aber das sexuelle Bedürfnis war offenbar stärker“, sagt Köster. Man merkt, der Vorfall macht ihm zu schaffen. „Vielleicht muss Richard doch in eine Einrichtung mit noch mehr Kontrolle.“

*Die Namen der Jugendlichen wurden von der Redaktion geändert.