: Den Ausstieg probiert, es dann doch nicht riskiert
■ Zwei Tage lang beklagte die Alternative Liste den Zustand der rot-grünen Koalition in West-Berlin / Dann eine große Mehrheit für die Fortsetzung der Koalition
West-Berlin. Es beginnt, wie ein richtiger Parteitag beginnen sollte: Mit einem Grußwort, zeitgemäß aus dem Osten. Die Arbeitnehmerberatung aus dem Ostberliner Stadtteil Oberschönweide ermahnt die AL-Mitglieder am Freitag abend zu Beginn der zweitägigen Debatte über die Koalitionsfrage: „Bleibt drin in der Koalition!“ Es sei unverantwortlich, in dieser Situation in Berlin aus dem Bündnis auszusteigen, warnt der Redner. Der Beifall scheint ihm recht zu geben, erweist sich aber im weiteren Verlauf der Debatte keineswegs als Indikator für den Verlauf der folgenden Aussprache.
Am Freitag abend kann die Debatte in dem fensterlosen Hörsaal der TU über den Zustand von Rot-Grün nicht anders als stinkend langweilig bezeichnet werden. Anwesend sind nur etwa 300 Mitglieder, König Fußball ist ein nicht zu unterschätzender Konkurrent. Nach dem Bericht von Peter Lohauß vom Geschäftsführenden Ausschuß (GA) über den Stand der Nachverhandlungen der Koalitionsvereinbarungen wird der Fraktion das Wort erteilt. Renate Künast muß erklären, warum die Fraktion diesmal kein einheitliches Votum abgibt. „Die Positionen sind diesmal zu unterschiedlich“, heißt es. Nach Stunden des Austausches immergleicher Argumente wird die Versammlung gegen zehn beendet.
Am Samstag nachmittag füllt sich der Saal dann bald mit gut 800 Menschen. Acht Anträge müssen begründet werden - mit anschließender Aussprache. Dirk Schneider von der Kreuzberger AL beklagt die Lüge der Koalition und will nicht nur „das bunte Anstecktüchlein am Ausgehanzug von König Momper“ sein. Die rot-grüne Koalition betreibe nur noch eine Politik des Minimalismus, die auch zum Scheitern des Sozialismus in der DDR geführt habe. In diesem Augenblick ist der Kreuzberger Antrag verloren, selbst die größten Fundis buhen den Redner aus. Später wird der Antrag, der für den sofortigen Ausstieg plädiert, mit großer Mehrheit abgelehnt.
Beifall erhalten sowohl die Redner, die für eine Fortsetzung der Koalition sprechen, als auch die, die für einen gestaffelten Ausstieg sprechen. Auch GA-Mitglied Brüggen spricht für diesen Antrag, dem sich sowohl Koalitionsgegner als auch -befürworter anschließen können: Koalition nicht sofort beenden, sondern die „streitbare Zusammenarbeit“ mit der SPD verschärfen. Dem SPD -Fraktionssprecher, als Beobachter bei der VV, läuft bei dieser Drohung ein Schauer über den Rücken. Zu diesem Antrag formuliert Christian Ströbele einen Zusatz, der die Haltung zum Staatsvertrag zum Knackpunkt macht: Sollte sich Berlin im Bundesrat nicht enthalten, verweigert die AL die Zustimmung im Abgeordnetenhaus - für die SPD untragbar.
Die Stars der Rednerliste sind aber die Senatorinnen Schreyer und Volkholz, die sich beide klar für eine Fortsetzung der Koalition stark machen. Sie erhalten den größten Beifall. Belacht werden zunächst die Ausführungen von Fraktionsmitglied Bernd Köppl, der sich, einem Buchhalter gleich, daran gemacht hat, die Senatsentscheidungen zu zählen. Seine Bilanz: Insgesamt 1.200, davon war die AL an 700 bis 800 beteiligt, über gut 30 gab es Kontroversen, nur in fünf bis sechs Fällen habe die AL verloren. Das Ergebnis der Abstimmung ist dann schließlich eindeutig: 310 Mitglieder stimmen für die Fortsetzung der Koalition, 190 dagegen. Selbst Antragsteller Köppl ist überrascht. Birgit Arkenstette, deren Antrag auf Tolerierung zielte, orakelt vom Ende der Liste, Austrittsdrohungen schwirren durch den Saal. Nicht nur einmal ist das Wort PDS zu hören...
Kordula Doerfler Siehe auch Bericht auf Seite 5
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