■ Interview zum Ergebnis der französischen Wahlen: Le Pen siegt in den Hochburgen des Republikanismus: „Den Arbeitern geht es so schlecht“
Der 1951 geborene Soziologe Emmanuel Todd ist einer der Intellektuellen im Umfeld des neogaullistischen Präsidentschaftskandidaten Jacques Chirac. Gegenwärtig arbeitet er am Ined, dem „Nationalen Institut für Demographie“ in Paris. Er hat zahlreiche Bücher über die politische Landschaft Frankreichs, über die europäische Integration und über Familienstrukturen veröffentlicht. Zuletzt erschien eine umfassende Untersuchung über die Entwicklung der Immigration in Frankreich, „Le Destin des Immigrés“, 1994, Editions du Seuil, Paris.
taz: Am Sonntag haben fast 40 Prozent der WählerInnen für radikale KandidatInnen gestimmt – rechte und linke.
Emmanuel Todd: Ich glaube, daß die Klassifizierungen „rechts“ und „links“ in Frankreich immer weniger zutreffen. Wenn man die Wahlentscheidungen nach sozioprofessionellen Kategorien untersucht, erkennt man besser, was los ist. Daß 27 Prozent der französischen Arbeiter die Front National gewählt haben, markiert eine Zäsur. Es zeigt, daß die französische Gesellschaft tatsächlich in der Krise ist und daß es ihrer Arbeiterklasse fürchterlich schlechtgeht. Seit 1990 hat Frankreich den höchsten Zuwachs an Arbeitslosigkeit in Europa, die höchsten Zinssätze, die Jugendarbeitslosigkeit in den Vorstädten ist völlig unglaublich. Im Arbeitermilieu in Frankreich gibt es ein Element von Revolte. Diese politische Verzweiflung hat angesichts der schlechten Wirtschaftspolitik eine gewisse Logik.
Ist das eine Revolte gegen die V.Republik?
Ich bin nicht überzeugt, daß man die WählerInnen, die außerhalb der traditionellen Parteien gestimmt haben, als Nichtrepublikaner bezeichnen kann. Ich habe nicht das Gefühl, daß die Werte der französischen Gesellschaft bedroht sind. Die Stimmen für die Front National werden im Ausland sehr falsch verstanden. England und Deutschland haben keine mächtige extreme Rechte. Wohl aber Frankreich, das Land der Menschenrechte und der Revolution. Das ist eine Umkehrung, ein Scheitern des Universalismus: Das Land, das sich einst am besten gegenüber den Ausländern verhalten hat, benimmt sich jetzt am schlechtesten. Es gibt aber auch Paradoxien ganz anderer Art. So ist Frankreich gleichzeitig das Land mit einer extremen Rechten und einer hohen Quote von gemischten Ehen.
Woher kommt der Widerspruch zwischen funktionierender Integration von Immigranten und starker Front National?
Eines der Ergebnisse dieser Wahlen ist, daß sich die Stimmen für die Front National von der Frage der Immigration gelöst haben. Die Immigration bleibt zwar ein Thema, aber die Arbeitslosigkeit ist ins Zentrum gerückt. Der Assimilierungsprozeß von Immigranten in Frankreich geht sehr schnell. Die Jugendlichen in den Vorstädten sind nicht rassistisch. Allerdings dauert im Vergleich zu anderen Immigranten die Assimilierung der maghrebinischen Immigranten länger, und das produziert Reibungen. Eine Bevölkerung mit universalistischer Gesinnung verlangt die Assimilierung – das ist das Gegenteil von Rassismus – und ist genervt, weil sie die Probleme sieht.
An welchen Orten ist die Front National stark?
Das sind die Gegenden, in denen die Verfechter von Gleichheit und Republik stark waren. Dort, wo die Französische Revolution und der Kampf für die universellen Menschenrechte begonnen haben.
Wie erklären Sie dann das gute Abschneiden der Front National im Elsaß und im Norden Frankreichs?
Meine Hypothese ist die spezifische Rolle der türkischen Bevölkerung, die in Frankreich nur im Elsaß stark ist und sehr wenig Zeichen von Assimilierung zeigt. Im Norden hingegen handelt es sich um Gegenden mit alter Industrie. Und überhall, wo die Arbeiter in der Mehrheit sind, ist die Front National stark – im ganzen Norden und in der Pariser Region.
Gerade in der Pariser Region entsteht dadurch vielerorts eine Konstellation wie im Deutschland der frühen dreißiger Jahre mit einer starken extremen Rechten und einer starken Kommunistischen Partei.
Da gibt es nur sehr oberflächliche Beziehungen. Der große Unterschied ist, daß die extreme Rechte in Deutschland aus der Mittelschicht kam. Die „petite bourgeoisie“ war ihre anfängliche Bastion, besonders in protestantischen Gegenden. Im Arbeitermilieu – ob sozialdemokratisch oder kommunistisch – gab es eher Widerstände. Bei der Front National in Frankreich heute ist genau das Gegenteil der Fall. Sie hat immer mehr Arbeiter- und immer weniger Mittelschichtstimmen.
Zeichnen sich gewalttätige Konfrontationen zwischen extremer Rechter und Linken ab?
Nein. Zwar ist mir das skandalöse Ereignis, daß ein junger Franzose von den Komoren kurz vor der Kampagne in Marseille ermordet wurde, bewußt. Aber das politische Klima in Frankreich ist insgesamt nicht gewalttätig. Da muß man nichts befürchten. Die Konfrontation zwischen Kommunisten und Faschisten kam zu einer Zeit zustande, in der jede Ideologie eine beinahe komplette Gesellschaft definierte. Es gab eine Überrepräsentation von Kommunisten und Sozialisten im Arbeitermilieu. Aber die hatten ihre Eliten – Intellektuelle und Mittelschicht –, und es gab auch eine katholische Untergesellschaft und eine faschistische. Die schlugen sich gegeneinander.
Frankreich heute ist aber kein Modell rivalisierender Gesellschaften, sondern eines von Auflösung und Atomisierung. Es gibt keine Beziehungen zwischen oben und unten. Unten sind die Arbeiter, die Le Pen wählen, und oben die Führungskräfte und Lehrer, die den Lepenismus nicht verstehen. Wenn die Klassen soweit voneinander entfernt sind, ist das kein Klassenkampf.
Sehen Sie Parallelen zu der politischen Entwicklung in anderen europäischen Ländern?
In Deutschland, wo der historische Schock am größten war, gibt es eine geradezu spektakuläre Stabilität. Bei den ersten gemeinsamen Wahlen nach der deutschen Vereinigung gab es kaum Veränderungen. In Italien gibt es eine Auflösung der politischen Strukturen wie in Frankreich. Auch England hatte eine solche Phase – die des Zusammenbruchs der Labour Party. Es gibt politische Systeme, die großen Umwälzungen unterworfen sind, und andere, die viel stabiler sind. Das geht auf tiefe kulturelle und anthropologische Variablen zurück. Es ist nicht einfach der Unterschied zwischen katholischen und protestantischen Gegenden. Ich halte die Familienstruktur für wichtig, die „Latinität“ von Frankreich und Italien.
Rechnen Sie in Frankreich mit einer Entwicklung wie in Italien?
Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede. Frankreich hat eine zentralistische Tradition, auch eine der Disziplin und Organisation, die es in Italien nicht gibt. Man kann keine Umwälzungen mit einer Tragweite wie in Italien erwarten. Schließlich sind die Kandidaten im zweiten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen Leute aus den traditionellen Parteien. Es gibt da keinen Berlusconi. Was die politische Mobilität betrifft, liegt Frankreich irgendwo zwischen Deutschland und Italien.
Hat sich die Front National fest in Frankreichs politischer Landschaft etabliert?
Beim Aufkommen der Front National im Jahre 1984 war ich nicht besonders beunruhigt. Jetzt aber sehe ich das anders. Daß Le Pen im Arbeitermilieu die 20 Prozent überschritten hat, ist doch ziemlich beeindruckend. Das beschreibt das Niveau der Verzweiflung der französischen Arbeiterklasse. Theoretisch gibt es da keine Grenzen. Wenn die französischen Eliten ihre Politik nicht ändern, kann man sich durchaus eine weitere Progression der Front National vorstellen.
Welchen Rat geben Sie den Politikern?
Nach den wirtschaftlichen Umwälzungen und der Desintegration der traditionellen Ideologien in Frankreich – des Kommunismus und der katholischen Religion – gibt es im Arbeitermilieu die Sehnsucht nach der Nation als Sicherheitsfaktor. Das ist die letzte verbliebene kollektive Identität, die es erlaubt, im sozialen Sinne zu handeln. Ich verabscheue die Chefs der Front National. Aber die französischen führenden politischen Köpfe können nicht so tun, als ob dies Bedürfnis nach Nation nicht existiere. Sie müssen zugeben, daß der europäische Horizont überholt ist. In den Vorstädten, wo die Arbeitslosigkeit und die Probleme mit der Assimilierung grassieren, macht es keinen Sinn, über Weltperspektiven und ein vereintes Europa zu reden. Niemand ist in Frankreich antieuropäisch. Aber diese Utopie, die doch eher ein Projekt der Eliten ist, hat keinen Sinn für das Arbeitermilieu, für das Gefühl, französisch zu sein.
Vor fünf Jahren war ich noch ein völlig überzeugter Pro-Europäer. Jetzt habe ich mich mit der Idee abgefunden, daß die Nationen nötig sind. Nicht nur für Frankreich. Die Idee, ein Europa zu konstruieren, damit Deutschland nicht existiert, finde ich pervers. Dorothea Hahn/Paris
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