Demos in der Türkei: Sie fürchten neue Gezi-Proteste
Zu Tausenden demonstrieren Menschen gegen das Ergebnis des Referendums. Unser Reporter Murat Bay hat die Proteste in Kadıköy und Beşiktaş begleitet.
Seit einer Woche gehen in der Türkei Tausende Regierungsgegner*innen auf die Straße und protestieren vehement gegen das umstrittene Referendumsergebnis. Auch wenn der ideologische Hintergrund der einzelnen Demonstrierenden sehr unterschiedlich ist, haben die Forderungen nach Frieden, Freiheit und Laizisimus eine Menschenmenge zusammen gebracht, die gemeinsam gegen den „Despotismus“ für „eine freie Republik“ skandieren.
Die in Istanbul, Ankara und Izmir begonnenen Proteste haben sich inzwischen auf das gesamte Land ausgebreitet. Auch wenn die größte Oppositionspartei CHP bereits verkündet hat, dass sie aufgrund ihres „parlamentarischen Selbstverständnisses“ die Demonstrierenden nicht unterstützen wird, gehen in Istanbul jeden Abend um 19.30 Uhr Menschen auf die Straße. Sie marschieren durch Nebengassen ihren Weg auf die großen Plätze und werden dabei von den Anwohner*innen akustisch mit Applaus und dem Lärm von Töpfen und Bratpfannen unterstützt.
Bei dem Protest in Kadıköy skandieren die Menschen: “Wir werden deine Präsidentschaft nicht zulassen“. Unter ihnen trägt eine Frau ein Transparent mit der Aufschrift „Frauen wollen keinen Krieg“, eine andere begleitet den Protest mit einem „zılgıt“ (Dabei handelt es sich um einen lauten Ausruf, der vor allem in der kurdischen Kultur sowohl bei festen, als auch bei Protesten zur Anwendung kommt. Anm.d.Red.).
Feride Eralp von der Initiative „Frauen sind gemeinsam stark“ („Kadınlar birlikte güçlü“) erklärt, was die Errichtung eines Präsidialsystems für die Frauen des Landes für Folgen haben kann: „Die Aufhebung des Parlaments bedeutet, das Gesetzesentwürfe, mit denen sie uns zwingen unsere Vergewaltiger zu heiraten, ohne parlamentarische Prüfung in Kraft treten können.“
Tausende Frauen die sich gegen Gewalt durch das Patriarchat und den Staat wehren, haben sich am 18. April 2016 in Kadıköy versammelt, um deutlich zu machen, dass sie das zweifelhafte Wahlergebnis nicht anerkennen werden. Auf die Frage, die Eralp der Menge bei der Kundgebung stellt „Werden wir ihnen gestatten, dass sie uns mit Lug und Betrug unsere Rechte nehmen?“, entgegnen die Frauen laut und deutlich „Nein!“
Seit einiger Zeit veranstalten die Mitglieder der Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK), die durch den Ausnahmezustand ihre Jobs verloren haben, Sitzproteste in den Stadtzentren. Gewerkschafter Murat Öztürkmen, der im Januar seine Anstellung bei der türkischen Sozialversicherungsanstalt SGK (Sosyal güvenlik kurumu) verloren hat, sagt: „Nach dem Putsch hat sich das Vorgehen gegen die FETÖ zu einer Hexenjagd entwickelt“. Allerdings ist Öztürkmen überzeugt davon, der Widerstand wird es ihm ermöglichen wieder zu seinem Job zurückzukehren.
Songül Tunçdemir, seit 24 Jahren als Lehrerin tätig, erzählt, dass einige ihrer entlassenen Kolleg*innen Suizid begangen haben und einige einer Herzattacke erlegen seien, da sie den Druck und die Repressionen nicht mehr aushalten konnten. „Wir werden kämpfen, bis wir eine besser Zukunft für unsere Kinder erreicht haben und wir werden weiterhin gegen die Erlassung von weiteren Notstandsdekreten vorgehen“, so Tunçdemir. Sie will solange auf die Straße gehen, bis Gerechtigkeit im Land waltet.
Auf derselben Demo sind auch Kemalisten anwesend, die sich auf der Straße von den Vorsitzenden der Parteien CHP und MHP allein gelassen fühlen. Sie fürchten nicht nur die Einführung des Präsidialsystems, sondern auch den Aufstieg des radikalen Islam. „Wir werden dieses Land nicht dem Reaktionismus überlassen“, skandieren sie.
Die Regierung fürchtet derweil, dass die aktuelle Bewegung auf den Straßen sich in neue Gezi-Proteste entwickeln könnte und reagiert darauf mit Festnahmen. In der Nacht des Referendums hielt die Polizei ein Fahrzeug an, in dem auch ich mich befand, und behauptete, jemand habe uns angezeigt. Vollkommen willkürlichen wurden wir festgenommen und auf das nächste Revier gebracht. Man löschte alle Aufnahmen, die sich auf meinem Kameraspeicher befanden.
Nur ein paar Tage später wurde in unserer Redaktion der Onlineplattform sendika.org eine Razzia durchgeführt, bei der mein Kollege Ali Ergin Demirhan festgenommen wurde, mit der Begründung, er habe „das Ja-Ergebnis des Referendums für illegitim erklärt“. Die Situation zeigt, dass Polizisten inzwischen Eigeninitiative ergreifen können, um Zensur auszuüben – auch wenn keine Straftat festgestellt werden kann.
Die Onlinenachrichtenseite sendika.org wurde in den vergangenen zwei Jahren 35 Mal gesperrt. Çağlar Özbilgin, ein anderer Redakteur der Plattform, sagt, dass diese Sperrungen gezielt die Informationsfreiheit des Volkes einschränken: „Nachdem sie sendika33 gesperrt haben gründeten wir sendika34. Sie haben unseren Kollegen Ali festgenommen, aber wir machen weiter mit unserer Arbeit.“
Özbilgin macht deutlich, dass die polizeilichen Festnahmen sich derzeit gegen das „Nein“-Lager richten: „Es wurde inoffiziell zu einer Straftat erklärt, das Referendumsergebnis anzuzweifeln. Die Regierung, die schon im Vorfeld des Referendums alle ‚Nein‘-Wähler*innen zu Terroristen deklarierte, lässt uns nun wegen ‚Volksverhetzung‘ verfolgen. Da trotz all dem Druck mehr als die Hälfte der Bevölkerung höchstwahrscheinlich mit ‚Nein‘ gestimmt hat, können diese Operationen nichts an der Meinung der Menschen ändern. Sie können schließlich nicht jeden, der auf die Straße geht, festnehmen. Sie können die Illegitimität des Referendums nicht so einfach verschleiern.“
Auch wenn das Referendumsergebnis für die Regierung klar ist, gehen immer noch Tausende von Menschen täglich auf die Straße und schreien: „Nein, wir akzeptieren das Ergebnis nicht!“ Die Kurd*innen, deren Städte zerstört wurden, sagen „Nein“ zum Krieg, die Laizist*innen sagen „Nein“ zur Scharia, die von ihrer Partei ausgeschlossenen Rechtsextremen sagen „Nein“ zum Verrat, die Arbeitslosen sagen „Nein“ zur Korruption, die Frauen sagen „Nein“ zur patriarchalen Gewalt, die LGBT-Community sagt „Nein“ zu Homophobie. Denn es geht nicht nur um einen einfachen Wahlbetrug. Es geht, so wie schon bei den Gezi-Protesten, um sehr viel mehr.
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