Demonstrationen in den USA: Die Linke zeigt Flagge
In Washington gehen Anhänger von fast 400 Organisationen auf die Straße für Arbeit, Gerechtigkeit und mehr Staat. Und auch ein bisschen für ihren Präsidenten Barack Obama.
![](https://taz.de/picture/295276/14/us-linke.20101003-20.jpg)
WASHINGTON taz | "So sieht Amerika aus", ruft Alfred Charles Sharpton von den Stufen des Lincoln Memorials in die Menschenmenge. Vor dem schwarzen Bürgerrechtler stehen zigtausende DemonstrantInnen in der Mall, dem Gedächtnispark im Herzen der US-Hauptstadt. Es sind Bürgerrechtler, Feministinnen, Gewerkschafter sowie Schwule und Lesben, die aus allen Ecken und Enden des Lands gekommen sind. Ihr Motto heißt "One Nation Working Together". Exakt einen Monat vor den Halbzeitwahlen zeigen sie Flagge. Verlangen mehr Jobs. Mehr soziale Gerechtigkeit. Mehr Staat.
"Seid ihr Amerika?", ruft ein anderer Redner, der weiße TV-Moderator Ed Schultz, ins Mikrofon. "Yes. We are America", schallt es zurück. Es ist die erste große nationale Demonstration der Linken seit langer Zeit. Veranstalter ist ein heterogener Zusammenschluss von beinahe 400 Organisationen. So viele verschiedene Gruppen - von Gewerkschaften, Kirchen, afroamerikanische und "hispanic" Bürgerrechtsgruppen bis hin zu Homosexuellenlobbys - haben sich noch nie zusammengetan.
Jetzt wollen sie zeigen, dass die Straße nicht den Glenn Becks und anderen religiösen Traditionalisten von Tea Party und Republikanern gehört. Anstatt eine Rückkehr zu alten Werten, zu predigen und anstatt gegen den Präsidenten und gegen "Washington" zu hetzen, verlangen sie nach mehr Staat. Manche DemonstrantInnen in der Mall haben sogar T-Shirts mit einem Konterfei von Barack Obama aus ihrem Schrank gekramt.
Noch mehr Eindrücke von den Kundgebungen in Washington sowie Fotos und ausführlichere Zitate der Befragten aus diesem Bericht finden Sie in einem aktuellen Blog-Beitrag von Dorothea Hahn auf blogs.taz.de.
"Bush hat einen Scherbenhaufen hinterlassen. Obama macht daraus das Beste, was er kann", sagt Darrel Bouldin, 24-jähriger linker Aktivist aus dem konservativen Bundesstaat Tennessee. Vor ein paar Monaten hat er die "Tea Party Progressives" gegründet, um gegen die rechten Traditionalisten zu halten. "Die Opposition hat vom ersten Moment an Blockadepolitik gegen Obama gemacht", meint die Ingenieurin Ann Wilfong aus Florida.
Allerdings gehen ihr manche Dinge nicht schnell genug. Zum Beispiel hätte sie anstelle der Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan einen schnellen Abzug gewünscht. "Obama wählen" hat John L William aus Georgia auf sein Transparent geschrieben. Für den Bürgerrechtler, der mit einer Kirchengruppe im Bus angereist ist, gibt es keine Frage, wo er bei den Halbzeitwahlen sein Kreuzchen machen wird: Er wählt demokratisch. Es geht darum, rechte Mehrheiten im Kongress zu verhindern.
Andere DemonstrantInnen sind wegen bestimmter Themen und nicht unbedingt wegen der Wahlen gekommen. Die Ärztin Mardge Cohen, die in einer Obdachlosenklinik in Boston arbeitet, würde nur einem Politiker ihre Stimme geben, der für eine universelle Krankenversicherung eintritt. Und wenn die Mehrheit im Kongress republikanisch wird?
"Was hilft mir ein demokratischer Politiker, wenn er eine rechte Politik macht?", antwortet die Ärztin. Eine Demonstrantin aus Ohio sagt: "Wir haben die beste Regierung, die Geld kaufen kann". Mary Morgan ist 85, sie hat schon während des Vietnamkriegs an Demonstrationen in der Mall teilgenommen. Immer gegen die "Kriegswirtschaft" und immer für Frauenrechte. Doch trotz aller Skepsis gegen die halbherzige Politik von Obama wird sie in den verbleibenden vier Wochen bis zu den Wahlen zu Hause wieder Klinken putzen, um Wählerstimmen für die DemokratInnen zu sammeln. Das kleinere Übel.
"Jesus ist ein Linker" steht auf dem Transparent, mit dem James Keane aus New York über die Mall zieht. Für ihn war es "höchste Zeit", dass die Linken auf die Straße gehen. Am Mikrofon vor der großen Menschenmenge sagt Bob King von der Gewerkschaft United Auto Workers etwas ganz Ähnliches: "Wir müssen unsere Spaltungen überwinden. Wir brauche eine neue soziale Bewegung im Land."
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