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Demonstrationen in Taiwan

Zehntausende fordern die Einführung der Direktwahl des Präsidenten — und damit eine indirekte Anerkennung der Unabhängigkeit vom Festland  ■ Aus Taipei Günter Whittome

Die größte Oppositionspartei Taiwans, die Demokratische Fortschrittspartei DPP, rief am Sonntag ihre Anhänger auf die Straße, um ihrer Forderung nach einer Direktwahl des Präsidenten im kommenden Jahr Nachdruck zu verleihen. Zum ersten Mal fanden in allen größeren Städten Taiwans gleichzeitig Demonstrationen statt, die von der Regierung genehmigt worden waren.

Für die seit zwei Wochen geplanten Demonstrationen hatte die DPP mit mindestens 30.000 Teilnehmern in ganz Taiwan gerechnet, doch Regen und Hagel machten ihr einen Strich durch die Rechnung. In Taipei zogen etwa 5.000 am Nachmittag durch die Innenstadt. In anderen Städten waren es jeweils nur einige hundert. Die Demonstrationen und Kundgebungen sollen bis Dienstag fortgeführt werden. Die Dienstagsroute, die die DPP wie am Montag am Regierungsviertel vorbeiführen möchte, ist jedoch noch nicht genehmigt.

Seit einem Monat tagt die im Dezember erstmals seit 40 Jahren neu gewählte Nationalversammlung, die über Verfassungsänderungen beraten soll. Die DPP, die über 20 Prozent der Sitze verfügt, kann zwar Anträge einbringen, jedoch die nach den Neuwahlen mit einer verfassungsändernden Dreiviertelmehrheit ausgestattete regierende Kuomintang (KMT) zu keinen Kompromissen zwingen.

Allerdings ist auch die Regierungspartei über die Frage der Direktwahl des Präsidenten uneins, daher hat sie die Entscheidung darüber auf unbestimte Zeit vertagt. Die alte Garde der Festlandspolitiker favorisiert eine indirekte Wahl durch Wahlmänner. Dann nämllich könnte eine Anzahl von Stimmen für Vertreter der „Festlandsprovinzen“ und Überseechinesen reserviert werden. Die KMT hält offiziell immer noch an ihrem Alleinvertretungsanspruch für ganz China fest.

Die DPP, die sich nach Jahrzehnten der KMT-Alleinherrschaft Mitte der achziger Jahre als erste Oppositionspartei gebildet hatte und heute etwa 20.000 Mitglieder zählt, lehnt in ihrem neuen Grundsatzprogramm diesen Anspruch und überhaupt eine Wiedervereinigung mit China ab. Ihr Ziel ist die Errichtung einer „Republik Taiwan“ mit Aufnahme in die UNO und andere internationale Organisationen.

Zwar wäre ein Kabinettsystem nach europäischem Vorbild eine demokratischere Alternative, wie auch der Vize—Generalsekretär der DPP, Chiu Yi—jen, einräumt, aber „nur durch die Direktwahl des Präsidenten werden wir eine Symbolfigur für ein unabhänigiges Taiwan bekommen. Nur so werden wir grundlegende Änderungen im System erreichen und eine neue Verfassung statt nur kleine Korrekturen.“ Vorausgesetzt jedoch, daß der Kandidat der DPP gewinnt.

Bei der eher zögerlichen Unterstützung der breiten Öffentlichkeit für die „radikale“ Forderung nach Unabhängigkeit muß man bedenken, daß vor fünf Jahren erst das jahrzehntelang geltende Kriegsrecht aufgehoben wurde. Das öffentliche Eintreten für die Unabhängigkeit steht offiziell als „Separatismus“ immer noch unter Strafe, wird jedoch weitgehend geduldet. Außerdem — der vielleicht wichtigste Faktor — droht die Volksrepublik China zuweilen mit militärischer „Befreiung“ im Falle einer Unabhängigkeitserklärung.

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