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Demokratie, die sich nicht mehr stauen läßt

Albaniens Jugend ist aus den Katakomben des Stalinismus herausgetreten/ Pluralismus heißt aber mehr als institutionalisierte Dialektik zwischen Regierung und einer Oppositionspartei/ Die gesamte albanische Gesellschaft will sich politisch artikulieren  ■ Von Alexander Langer

Tirana (taz) — Nun gibt es also auch im ärmsten und scheinbar kompaktesten Land Europas — in Albanien — so etwas wie eine „civil society“, einen Ansatz zu einer pluralistischen und auch widersprüchlichen Gesellschaft, die sich nicht mehr verdecken oder einfach verhaften läßt. Eine Woche lang konnte ich als Berichterstatter des Europäischen Parlaments die aufregendsten Tage dieser Demokratisierung von unten miterleben: die beiden enormen Studentenversammlungen in Tirana am 11. und 12. Dezember (mit je 20.000 und 70.000 bis 80.000 Menschen), die Bildung der neuen „Demokratischen Partei“ und Ansätze zum Aufbau anderer politischer Gruppierungen (christdemokratisch, grün und andere), das Wiederaufleben religiöser Initiativen von katholischen, orthodoxen und islamischen Glaubensbekundungen, die Reaktionen auf die manchmal gewaltsamen Demonstrationen in albanischen Städten, die Auswirkungen dieser Beben auf die offiziellen Stellen.

Da bahnt sich ein Fluß seinen Weg, der sich nicht mehr zurückstauen läßt; das Schreckgespenst Rumänien ist für alle Seiten eine deutliche Mahnung, und man will diese Gefahr vermeiden. Alle in Albanien — Regierung wie Opposition — reden von Europa und möchten aus ihrer Isolierung heraus; Präsident Ramiz Alia wird — ähnlich wie Gorbatschow in der UdSSR — wohl noch einige Zeit lang an der Spitze des Staates stehen und versuchen müssen, einen möglichst sanften Übergang zu ermöglichen; von der Kraft der neuen Bewegungen und von der aktiven Beteiligung des übrigen (vor allem westlichen) Europas wird es abhängen, wie rasch und wie überzeugend dieser Übergang stattfindet. Den Pluralismus gibt es bereits in der gesellschaftlichen Realität, aber er muß nun politisch, sozial und kulturell überhaupt erst etabliert und abgesichert werden. Die Menschen, vor allem die Jugend — Albanien hat den niedrigsten Altersdurchschnitt Europas —, sind aus der erzwungenen Sprachlosigkeit und den Katakomben herausgetreten und wissen, daß im derzeitigen internationalen Kontext eine frontale Repression wohl kaum mehr denkbar ist.

Das bedeutet aber beileibe nicht, daß nun alles schon gesichert ist: Die harten „exemplarischen“ Urteile gegen achtzehn sogenannte Vandalen, denen man Ausschreitungen während der Demonstrationen in Elbasan und Durres zur Last legte und die zu zwölf bis achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt wurden, zeigen, mit welchen Einschüchterungsversuchen man jegliche Bewegung wieder verstummen lassen möchte.

Die neue Führung der „Demokratischen Partei“, die im Augenblick die vergleichsweise organisierteste Kraft der Oppostion darstellt, hat sich erstaunlich schnell von der eigentlichen Basis des Demokratisierungsschubes entfernt. Neben Salih Berishi (einem Kardiologen, der aus dem Kosovo stammt), Gramoz Paschko (einem Universitätsprofessor für politische Ökonomie) und Arben Imame (einem Schauspieler) ist der Student Azem Hajadari in der provisorischen Parteiführung das einzig erkennbare Verbindungsglied mit der Bewegung, die in der vergangenen Woche eine Bresche eröffnet hat. Man darf sich deshalb auch nicht wundern, daß vor allem von vielen Jugendlichen diese Führung als zu moderat empfunden wird. Auch katholische Kreise im Norden des Landes befürchten, daß die Partei zu kompromißbereit und noch von der alten Garde geprägt sei. Von Arbeitern wurde insbesondere Paschko bei einer Versammlung mit offenem Mißtrauen behandelt: Fragte man ihn als Sohn eines Ministerehepaars unter Enver Hoxha, ob er bereit sei, auch die Statue seines Vaters zu stürzen, reagierte er mit einer Beschimpfung der „ignoranten Arbeiter“.

Obwohl die Demokratische Partei am Mittwoch als erste Oppositionspartei offiziell vom albanischen Parlamentspräsidium zugelassen wurde, ist der politische Pluralismus noch lange nicht ausgeformt. Wenn die Wahlen, die schon seit langem auf den 10. Februar 1991 festgesetzt waren, tatsächlich so bald stattfinden sollten, ist kaum damit zu rechnen, daß sich irgendeine oppositionelle Alternative wirksam formieren kann. Daher die Forderung nach Verlegung des Wahltermins. Zudem ist die Informationslage katastrophal: Derzeit funktioniert nur die Mund-zu-Mund-Kommunikation, und die Wortführer der neuen Bewegungen durften sich über die Medien nur äußern, als es darum ging, zur Ruhe aufzurufen. So kommt es, daß die verschiedenen Gerüchte (beispielsweise über Anzahl und Namen der Verhafteten, der Verletzten, der Toten — es scheint immerhin welche gegben zu haben, obwohl die Angaben darüber sehr schwanken) meist nicht nachprüfbar sind. Auch die Formierung politischer Gruppierungen geht noch immer im halbdunkeln vor sich: Sonntag abend kündigte beispielsweise ein handgeschriebenes Plakat die Bildung einer grünen Partei an, doch am nächsten Tag war es bereits abgerissen.

Was nun vor allem verhindert werden muß, ist der Rückfall Albaniens in die Isolierung. Regierung und neue Bewegungen, wie ein vor wenigen Tagen von Intellektuellen gegründetes Forum zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, fordern gleichermaßen die volle Einbeziehung Albaniens in den KSZE-Prozeß (was manche europäische Regierungen immer noch ablehnen) und die Eröffnung formeller gegenseitiger Beziehungen zwischen Albanien und der EG. Beides sollte nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden. Und wenn man die Weiterentwicklung der Demokratie in Albanien nicht nur der institutionalisierten Dialektik zwischen Regierung und „Demokratischer Partei“ anvertrauen will, sondern auch die Dynamik der „zivilen Gesellschaft“ unterstützen möchte, braucht es viele Kanäle für Kontakte und Information.

Der Autor ist grüner Europa-Abgeordneter aus Südtirol.

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