Deichkind-Operette: Dada unter der Gin-Tonic-Dusche
Es herrscht Remmidemmi, ein Aufstand auf der Bühne. Denn die Band Deichkind und viele Gäste spielen "Deichkind in Müll". Eine "Diskurs-Operette".
Erst einmal passiert nichts, gar nichts. Gefühlte 20 Minuten. Dann erschienen die bekannten Symbole auf der Bühne des Kampnagel in Hamburg: Blinkende Pyramiden-Masken. Fans wissen was jetzt kommt - Stille ist es nicht. Doch was mit der Diskurs-Operette "Deichkind in Müll" folgt, ist ein universeller Kulturschock für Fans, Theatergänger, Eltern, Freunde und Bandmitglieder. Alle haben etwas erwartet. Aber etwas anderes.
Trampoline, Hüpfburgen, Springstäbe - Der Song "Aufstand im Schlaraffenland" beginnt wie auf den großen Konzerten der Hamburger Techno-Satire-Band Deichkind. Doch die Performance findet ohne Ton, ohne Kostüme statt. Was bleibt vom schönen schrillen Schein ist ein überraschend bewegendes Bild und die Frage nach dem Phänomen Deichkind. Denn hier geht es nicht nur um Musik, es geht um das Versprechen von Freiheit, Ekstase, Phantasie, Spaß und den Ernst des Lebens. "Deichkind verkauft Emotionen" - so benennt es Henning Besser, besser bekannt als DJ Phono.
Für die kleine Schwester der Oper bedienten sich die vier Musiker großer Gesten, Worte und Bilder - und betrieben Recycling ihrer Bühnenshow: "Müll ist etwas Großartiges. Wir fragen uns: Wo siehst du den Wert? Was ist wertvoll? Das ist das Schöne an Müll, der eine schmeißt ein Teil weg, der nächste findet es geil, eine Art demokratische Gesellschaftsform ist das", so DJ Phono im taz-Interview.
Deichkind ist bekannt dafür, Grenzen zu überschreiten: Die zwischen Konzert und Happening, und die des guten Geschmacks. So treten sie schon mal vor 20.000 Zuschauern auf und bringen ihr Publikum dazu, gleichzeitig durchgeschüttelte Bierdosen zu öffnen. Gekonnt spielen sie mit Klischees, brechen und beugen sie nach Belieben. "Hört ihr die Signale": "Ein Hoch auf die internationale Getränkequalität! Ein Hoch auf die Säufer-Solidarität" - Eine eindeutige Zuordnung in Gut und Böse ist kaum möglich, auch das politische Koordinatensystem wird gebrochen: "Kein Mensch ist illegal - vor allem, wenn er breit ist." Für die Operette überschritten die Hamburger die Grenze zwischen Pop- und Hochkultur: Die Band wurde zum Ensemble, wuchs auf 20 Mitglieder an und probte in den vergangenen Wochen den Aufstand - mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes.
In der Kulturfabrik Kampnagel spielten sie vor gerade einmal 1.200 Zuschauern pro Abend. Bestuhlt, mit nummerierten Plätzen, lediglich die ersten Reihen waren Stehplätze - eine Reminiszenz an die wohl bekannte Konzertsituation: Die perfekte Kulisse für Remmidemmi mit Volkstheater-Einlagen. Libretti wie "Deine Eltern sind auf einem Tennisturnier, du machst eine Party, wie nett von dir. Impulsive Menschen kennen keine Grenzen! Schmeiß die Möbel aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum dancen!" schreien nach Brechung. Der Text entstammt dem Stück "Yippie Yippie Yeah". Die Remmidemmi-Fahne - bekanntes Konzert-Accessoire - erinnerte Regisseur Ted Gaier, Mitglied der Punk-Band "Die Goldenen Zitronen", an Eugène Delacroix` Gemälde der Französischen Revolution" - die Szene geriet zum "tableau vivant".
Aber "Deichkind in Müll" arbeitete nicht nur mit lebenden Bildern. Für ihre Operette betrieben die Deichkinder auch Grundlagenforschung. Bei einer klassischen Familienaufstellung unter Anleitung einer Therapeutin stellten sie sich der "Ferris-Frage": Wo ist der Platz von Ferris MC als zuletzt hinzugekommenes Bandmitglied? In diesem Moment kam endlich der Diskurs ins Spiel: An einer der Bühne vorgelagerten Tafel fragte Ted Gaier in die zwölfköpfige Runde - nicht nur Jünglinge und Jünger, sondern auch Frauen - nach dem unterschiedlichen (Geld-)Wert der Arbeit. Das Stück "Arbeit nervt" performten darauf die Frauen des Ensembles - mit Müllsack und Helm unkenntlich gemacht, stellte sich auch hier die Frage der Austauschbarkeit.
Trotz einer Dauer von fast drei Stunden und so manch grenzüberschreitendem Blick hinter die Kulissen, auf die Rückseite der Show, die Zitze - Showtreppe und Gin-and-Tonic-Dusche - war die Operette selbstreferentiell. Der Diskurs blieb im Ansatz verhaftet, das Phänomen der Band ungelöst. Deichkind ist Dada, ist Kunst - eine Diskurs-Operette braucht es dazu nicht. In illustrer Gesellschaft wäre "Deichkind in Müll" in London. Dort läuft zurzeit die Ausstellung "Art Bin" von Michael Landy: Ein riesiger Plexiglascontainer dient als Müllkippe schöpferischer Visionen - mehr als 300 Arbeiten wurden bereits hinein geworfen, unter anderen Werke von Damien Hirst und Tracey Emin - Kunstrecycling de luxe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“