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Debütalbum „Ratchet“ von ShamirWunderkerzen und Kuhglockensounds

Der Sänger Shamir aus Las Vegas ist ein Countertenor mit Haltung. Sein Debütalbum „Ratchet“ changiert zwischen Hedonismus und Ballade.

Sänger Shamir bevorzugt ausgefallene Kleidung. Von sich selbst behauptet er, die Stimme eines 14-jährigen Mädchens zu haben. Foto: Ruvan Wijesooriya/Promo

Shamir Bailey macht Musik, die sich gegen Eindeutigkeiten entscheidet. Zwischen bittersüßem Dancepop, introspektivem R&B und forschem HipHop ist auf seinem Debütalbum „Ratchet“ von allem etwas dabei.

Höchsten Wiedererkennungswert bildet die überaus hohe, extravagante Stimme des 20-Jährigen. Wie ein junger Michael Jackson, scheinbar ohne jede Stimmbruchzäsur, definiert Shamir mit seiner Stimme den Begriff Androgynität neu. „Ich bin mir bewusst, dass viele Hörer meine Stimme komisch finden“, räumt Shamir im Interview ein, gleich nach einer herzlichen Umarmung.

Leise fährt er fort: „Schon mein Highschool-Lehrer hat mich deswegen aufgezogen. Er dachte, ich sei eigentlich Bariton und würde die ganze Zeit Falsett singen. Ich habe das auch eine Weile versucht und darüber völlig meine Stimme verloren. Heute weiß ich, dass ich Countertenor bin.“ Besagte Highschool liegt in einem Vorort von Las Vegas, in der Wüstenstadt ist er aufgewachsen, inzwischen lebt Shamir in New York.

„Ratchet“, der Albumtitel, lässt sich in etwa mit „Ghetto-Diva“ übersetzen. „Das passt einfach zu mir und meinen Freunden. Wir hören 2Chainz und halten uns für die schärfsten. Wir reclaimen die Negativassoziation von Ghetto-Diva sozusagen für uns.“ Nicht nur dem Albumtitel merkt man Selbstbewusstsein an. Als ihn die Mitschüler wegen der Stimme mobbten, focht das den Teenager nicht an. In der Folge kleidete sich Shamir ausgefallener als alle anderen. Vermeintliche Schwächen münzt er in Selbstverwirklichung um.

Insbesondere das Internet ist eine unverzichtbare Hilfe: „Keine Ahnung, wer ich heute ohne das Internet wäre. Ich hatte in der sechsten Klasse ein Abo bei einem Musikstreaming-Dienst. Da habe ich viel Musik entdeckt … und Mode! Ich wusste dadurch auch, dass ich nicht allein bin. Meine Stimme weicht von der Norm ab. Mein Gender liegt irgendwo zwischen den Geschlechtern. Das Internet hat mir extrem geholfen.“ Konsequenterweise heuert der Fashionista daraufhin in einer Filiale der Boutiquenkette „Topshop“ an.

Noch kurz vor der Veröffentlichung seines Debüts hadert Shamir mit der Wahrnehmung als neuester Dancepop-Hype. Er sieht sich mehr als Unterhalter mit selbstbewusster Attitüde. Die Geisteshaltung liefert dabei die Eindeutigkeit, der sich die Kunst bewusst entzieht. Wer auf YouTube sucht, findet unter anderem Baileys Bewerbungsvideo für eine Stand-up-Comedyshow. „Ich bin ein 18-jähriger Schwarzer mit der Stimme eines 14-jährigen weißen Mädchens“, gibt er dort selbstironisch zu Protokoll.

Das Album

Shamir: „Ratchet“ (XL/Beggars Group/Indigo)

In erster Linie Musiker und Sänger

Sein erster Liveauftritt im französischen Fernsehen Ende 2014 führt unterdessen zu hämischen Kommentaren, die ihn stimmlich in der Nähe von Micky Maus verorten. „Singt da ein Junge oder ein Mädchen?“, lautet eine häufig gestellte Frage. Trotz aller Anfeindungen bleibt Shamir gelassen. „Ich bin in erster Linie Musiker und Sänger. Ich sehe nicht, welche Rolle da mein Gender, biologisches Geschlecht oder Hautfarbe spielen.“

Wenn Fans aus seiner unkorrumpierbaren Haltung Kraft schöpfen, findet er das zwar schön, betont jedoch zugleich: „I am an artist that happens to be a queer, but I am not a queer artist.“ Wie seine Musik, die zwischen jugendlichem Hedonismus und nachdenklicher Ballade changiert, entzieht sich auch Shamirs Persönlichkeit der Schublade des klar Politisierten. „Ratchet“ erzähle schlicht eine Coming-of-age-Geschichte, sagt der Sänger. Das Album eröffnet mit „Vegas“.

Dort erklingen die typischen Kuhglockensounds des DFA-Dancepunk, typisch auch für seinen Produzenten Nyck Silvester, und Shamirs sehr spezielle Stimme, bis er im Finale in „Head In The Clouds“ ein paar Wunderkerzen auf seine ganz persönliche Freiheit anzündet: „Got my head in the cloud / and I’m never coming out.“

Woanders thematisiert Shamir gar den Tod. „Ich denke tatsächlich viel über den Tod nach. Ich finde das eine schöne Sache. Es kommt natürlich darauf an, wie man stirbt und ob man die Chance auf ein erfülltes Leben hatte. Nach dem Tod gelangt man dann auf eine weitere, ganz neue Ebene.“ Selbst wenn das Debüt vielleicht nicht ganz so viel transzendentes Moment besitzt wie dieser Gedanke – Shamir Baileys selbstbejahende Grundhaltung überlebt hoffentlich noch manchen Hype.

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