Debatte: Den Konsumismus überlisten

Trotz aller "ökologischen Industriepolitik": Ohne Lebensstilwandel wird der Kampf gegen die Klimakatastrophe scheitern. Das muss aber nicht Genussverzicht bedeuten.

In Sachen Klimaschutz und Ökologie sind wir alle sehr vernünftig geworden, wahrscheinlich zu vernünftig. Nein, Alarmismus bringt gar nichts. Er verängstigt zu sehr. Noch schlimmer sind Verzichtsappelle. Denn die schrecken nur ab. Zweifel an Wachstumsgrenzen haben wir längst hinter uns gelassen. Wer will schon in den Verdacht mangelnder Zuversicht geraten. Da reden wir uns den Klimaschutz doch lieber schön. So lautet das Credo der "ökologischen Industriepolitik": neue Arbeitsplätze schaffen, Innovationen befördern, Exportmärkte erschließen und obendrein Energieimporte ersetzen. Wie gern das doch gehört wird - nicht mehr nur von Umweltfreunden, neuerdings auch an der Börse und in Redaktionsstuben.

Aber ist das wirklich alles so vernünftig, wie es klingen will? Oder braucht es nicht gerade eine präzise Vorstellung davon, welcher gewaltige Verlust uns droht, und die Bereitschaft zum Rückzug, um wirklicher Vernunft den Weg zu bahnen? Lassen wir die nüchternen Zahlen sprechen: In vorindustrieller Zeit lag die atmosphärische Konzentration von Kohlendioxid bei 280 ppm, also Teilen pro Million. Heute liegt sie bei 383 ppm, und jährlich kommen 2,5 hinzu. In der Gemeinde der Klimaforscher gilt es als ziemlich gesicherter Konsens, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bei maximal 420 ppm stabilisiert werden muss, um unkontrollierbare Folgen für Mensch und Natur zu vermeiden.

Das bedeutet, so der im Mai erscheinende Klimabericht der Vereinten Nationen, eine Rückführung des globalen Klimagasausstoßes um mindestens 50 Prozent bis 2050, wobei das weltweite Emissionsmaximum bis spätestens 2020 erreicht sein muss. Für die Industrienationen in Europa, Nordamerika, Asien und Australien ist die Botschaft noch eindeutiger. Sie müssen den CO2-Ausstoß bis 2050 um mindestens 80 Prozent senken, besser noch: CO2-frei wirtschaften. So weit die Sollzahlen.

Istzahlen und Trendprognosen stellen sich leider ganz anders dar. Die USA und Australien verweigern sich dem Kioto-Prozess bislang komplett. China und Indien unterliegen keinerlei Minderungsverpflichtungen. Die Internationale Energieagentur sagt bis 2030 einen Anstieg des globalen Energieverbrauchs um gut 60 Prozent voraus, überwiegend auf der Basis fossiler Brennstoffe. Selbst Europa, das sich vor wenigen Tagen in einer "historischen Entscheidung" (Sigmar Gabriel) zum globalen Klimachampion erklärt hat, peilt bis 2020 lediglich ein Ziel von 20 Prozent Minderung der Klimagase gegenüber 1990 an. Das sind pro Jahr gerade mal 0,66 Prozent.

Ob die bloßen Zahlen der Klimaforscher, und seien sie noch so erschreckend, die Menschheit zur Umkehr bewegen, ist freilich eine offene Frage. Zweifel sind angebracht. Fjodor Dostojewski hat die Schwäche rein quantitativer Ziele in seinen "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" bereits 1864 wunderbar aufgespießt. "Was ist denn das für ein Vergnügen, wenn alles schon auf der Tabelle ausgerechnet ist?", lässt er dort seinen Protagonisten sagen. Der nämlich zweifelt am Regiment der Wissenschaft und sieht eine furchtbar langweilige, dafür aber ungemein vernünftige Gesellschaft heraufziehen, keine wirklich aufregende Perspektive.

Die empirische Wissenschaft kann uns helfen, den Klimawandel zu verstehen. Sie kann uns die Leitplanken nennen, innerhalb derer wir uns zu bewegen haben, um den Absturz zu vermeiden. Aber sie kann uns keine Hinweise geben, wie wir den sozialen Prozess gestalten können, der uns vom Pfad der Selbstzerstörung abbringt und in sicheres Gelände führt. Dafür brauchen wir gesellschaftliche Fantasie, politischen Handlungswillen und echte Veränderungsbereitschaft.

Die offizielle Politik hat ihre Rolle da noch nicht gefunden. Was in der aufgeregten Klimadiskussion der letzten Wochen zur Sprache kam, war überwiegend Pritzelkram. Neue Kfz-Steuern, Glühbirnenverbote, CO2-Ablassscheine für Dienstflüge, Benchmarks für Kohlekraftwerke oder Kaufempfehlungen für japanische Autos mögen sinnvoll sein. Vor allem aber sind sie eines: ganz und gar unzureichend, auch in der Summe.

Die Politik muss höllisch aufpassen, dass sie die Klimadebatte nicht zerredet und so klein hackt, dass die Bevölkerung letztlich den Eindruck gewinnt, man könne an der Misere sowieso nichts mehr ändern und konzentriere sich am besten darauf, das eigene Scherflein ins Trockene zu bringen oder die letzte Party zu feiern. Was jetzt gebraucht wird, sind große Würfe, die dann auch verbindlich beschlossen und schrittweise umgesetzt werden: die kohlenstofffreie Energiewirtschaft, klimafreundliche Verkehrsmittel und Gebäude sowie Infrastrukturen, die für jeden ein richtiges Leben im richtigen ermöglichen.

Alle Windräder, Holzpelletheizungen und Hybridautos werden uns aber nicht retten, wenn wir uns länger um die Lebensstilfrage herumdrücken. Da gibt es eine natürliche Scheu, die verständlich ist, gerade bei Politikern, die den Vorwurf der Verzichtspredigt scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Aber der Konsumismus, also das Anhäufen von Gütern als Substitut für Sinn, ist heute der größte Feind des Klimaschutzes. Deshalb ist es eine Kulturaufgabe erster Ordnung, die Rückkehr zum menschlichen Maß zu befördern.

Ohne eine Vorstellung von nachhaltigen Lebensstilen und einer guten Gesellschaft jedenfalls läuft der Klimaschutz Gefahr, technokratisch zu werden. Dabei wird man nicht ohne weiteres an der "alten" Konsumkritik von Erich Fromm oder Rudolf Bahro ansetzen können. Der moderne Kapitalismus ist intelligent und raffiniert; seine Fantasie ist grenzenlos. So wie er Natursehnsucht in Outdoor-Kleidung und Geländewagen transformiert, so verwandelt er Konsumkritik in zerschlissene Hosen, coole T-Shirts und Buchbestseller. Den Konsumismus zu überlisten heißt Maßhalten mit Lebensfreude, Verzicht mit Genuss, weniger mit mehr, Askese mit Selbstentdeckung zu verbinden, um Mut zu machen und zur Nachahmung anzuregen. Bei der Pluralität unserer Gesellschaft wird das nicht zum Einheitslebensstil führen, sondern zu einer Vielfalt von Lebensstilen, die aber allesamt klimaverträglicher sein würden.

Freilich gilt es eine wichtige Einschränkung zu machen: Wenn Verzicht für die Reichen lediglich hieße, ihren Off-Roader in der Fastenzeit am Sonntag stehen zu lassen, während er für die Armen die Kürzung der Hartz-IV-Leistungen von 345 Euro pro Monat auf 300 Euro bedeutete, wäre ein solcher Ansatz ohne Aussicht auf breite gesellschaftliche Zustimmung. Die Chance, maßvollen Lebensstilen zum Durchbruch zu verhelfen, steigt mit der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, national wie international. Das Grundeinkommen für jede und jeden könnte die Brücke sein, um übermäßigen Wachstumsdruck von der Gesellschaft zu nehmen. Es ist an der Zeit, die ökologische und die soziale Frage endlich zusammenzudenken.

REINHARD LOSKE

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