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DebatteArme subventionieren Reiche

Kommentar von Karl Lauterbach

Der deutsche Staat bekämpft soziale Ungleichheit nicht - er verstärkt sie sogar noch. Das zeigte sich jetzt wieder bei der Pflegereform: Gutsituierte müssen weniger zahlen

D eutschland ist ein Zweiklassenstaat: Er bekämpft die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht - sondern stärkt die Privilegierten sogar noch zusätzlich. Wie diese Bevorzugung der Eliten funktioniert, konnte man letzte Woche erneut am Beispiel der Pflegeversicherung studieren. Zunächst wirkt es harmlos, dass sich die Koalition darauf geeinigt hat, dass die gesetzliche Pflegeversicherung ab dem 1. 7. 2008 um 0,25 Beitragssatzpunkte teurer werden soll. Doch mit diesem Beschluss werden die privilegierten Privatversicherten einmal mehr davor geschützt, gesamtgesellschaftliche Solidarität zeigen zu müssen.

Von vorn: Die Pflegeversicherung behandelt alle Versicherten gleich - abhängig nach Pflegestufen. Anders als bei den Krankenkassen sind die Leistungen der gesetzlichen und der privaten Pflegeversicherung also absolut identisch. So weit, so gut. Jedoch zahlen nur die gesetzlich Versicherten einkommensabhängige Beiträge. Die Privatversicherten zahlen Prämien pro Kopf und müssen sich an den Pflegeversicherungskosten der Einkommensschwachen nicht beteiligen.

Das ist gleich vierfach ungerecht: Die Privatversicherten haben im Durchschnitt doppelt so hohe Einkommen wie die gesetzlich Versicherten und müssten sich daher eigentlich als Erste am Einkommensausgleich in der Pflege beteiligen. Zweitens sind die Privatversicherten im Durchschnitt 10 Jahre jünger, haben also ein deutlich geringeres Pflegerisiko. Denn bis vor kurzem konnten ältere Privatversicherte im Krankheitsfall in die gesetzliche Krankenkasse und somit auch in die gesetzliche Pflegeversicherung zurückkehren. Drittens sind die Privatversicherten im Durchschnitt auch im Alter viel weniger pflegebedürftig, weil ihre bessere Gesundheit, ihre bessere Bildung und ihr höheres Einkommen sie vor Hinfälligkeit stärker schützt. Und viertens sind die Menschen mit besonders hohem Pflegerisiko, insbesondere chronisch Kranke und Behinderte, nur im Ausnahmefall in der privaten Pflegeversicherung, weil sie dort bis heute abgelehnt werden dürfen. All dies hat dazu geführt, dass die private Pflegeversicherung Versicherte mit dem doppelten Einkommen hat, aber pro Person nur ein Viertel so hohe Pflegekosten aufweist.

Im Koalitionsvertrag war daher eigentlich abgemacht worden, dass es zu einem Finanzausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung kommen sollte. Es wurde mit einem Transfer von jährlich 2,5 Milliarden Euro gerechnet. Doch die CDU bot als Sprachrohr der privaten Assekuranz nur ein Almosen von einmalig 60 Millionen Euro an. Gleichzeitig kündigte man an, auch dieses Almosen rechtlich strittig zu stellen, um nicht für die Krankenversicherung einen symbolischen Schritt in die "falsche" Richtung zu tun. Die SPD hat dieses Angebot abgelehnt.

Im Ergebnis bleibt die Pflegeversicherung in Deutschland die einzige Versicherung in Europa, wo man gut verdienen muss, um die gleiche Versicherung billiger als der Normalbürger kaufen zu können. Das System ist vergleichbar mit einem staatlich gesicherten Rabatt auf die Teilkaskoversicherung für Autos, den nur Mercedes und BMW-Fahrer genießen dürfen. Wahrlich absurd, der Staat schützt die Reichen vor den berechtigten Ansprüchen der Armen.

Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch alle Teile unseres Sozialstaats und unser Bildungssystem. Beispiel Rente: Einkommensschwache sterben im Durchschnitt acht Jahre früher als Spitzenverdiener. Das hat ganz konkrete Folgen für die Rendite der geleisteten Rentenbeiträge. Ein Geringverdiener, der lebenslang gearbeitet hat, zahlt im Durchschnitt 50.000 Euro mehr in die Rentenkasse ein, als er ausbezahlt bekommt. Ein Gutverdiener hingegen macht insgesamt einen Gewinn von durchschnittlich 200.000 Euro. Mit den genau berechneten Verlusten der Geringverdiener werden also die Gewinne der Gutverdiener bezahlt. Die Armen subventionieren die Privilegierten. Jede Form der steuerfinanzierten Grundrente wäre gerechter.

Beispiel Gesundheitssystem: Die gesetzlich Versicherten zahlen den Beitragssatz, den Sonderbeitrag und demnächst zusätzlich kleine Kopfpauschalen, um die Kosten des Solidarsystems zu schultern. Privat Versicherte hingegen zahlen nicht für Einkommensschwache, für die Masse der Arbeitslosen, Behinderten und chronisch Kranken. Geringe Kosten, maximale Leistung: Privatversicherte genießen eine deutlich bessere Versorgung, weil sie von den Spezialisten in Klinik und Praxis als die besseren Kunden bevorzugt werden. Für gesetzlich Versicherte hingegen ist es keineswegs selbstverständlich, dass sie als Krebspatient tatsächlich zum ausgewiesenen Experten in einer Universitätsklinik vordringen können. Denn via Gebührenordnung sorgt der Staat dafür, dass es sich für Krankenhäuser und Ärzte stärker rechnet, wenn sie einen Privatpatienten versorgen. Gesetzlich Versicherte werden wie Patienten zweiter Klasse behandelt, obwohl sie fast die gesamte Infrastruktur des Gesundheitssystems finanzieren. Eine einheitliche Gebührenordnung für gesetzlich und privat Versicherte wird jedoch von der privaten Assekuranz und der CDU kategorisch abgelehnt, weil sie die Zweiklassenmedizin gefährden könnte. Bis auf weiteres können gesetzlich Versicherte nur hoffen, dass sie selbst oder ihre Kinder zufällig über ein Beziehungsnetzwerk verfügen, dass sie bei schwerwiegenden Krankheiten dann doch noch mit einem Spezialisten in Kontakt bringt.

Beispiel Bildungssystem: Bei gleicher Begabung werden Kinder aus Akademikerfamilien sechsmal so häufig wie Arbeiterkinder zum Gymnasium geschickt. Bei Beamtenkindern besuchen fast 85 Prozent das Gymnasium, ihre Begabung spielt fast keine Rolle. Nie würden Akademikereltern ihre Kinder auf eine Hauptschule schicken, die ihre Absolventen lebenslang stigmatisiert. Solange es Hauptschulen gibt, werden sie also mit den Kindern der Migranten und Arbeiter gefüllt werden. Der Staat sorgt durch das dreigliedrige Schulsystem dafür, dass jeder nach seiner Herkunft seinen Platz in dieser Gesellschaft zugewiesen bekommt.

Wie kann der Zweiklassenstaat in Deutschland überwunden werden? Die Privilegierten bestimmen weitgehend die öffentliche Meinung. Zu ihnen gehören Beamte, Journalisten, Politiker, Freiberufler und Unternehmer. Die meisten von ihnen sind nicht gesetzlich, sondern privat versichert. Ihre Kinder besuchen fast immer das Gymnasium. Die Privilegierten werden das Phänomen des Zweiklassenstaats relativieren oder leugnen.

Daher kommt es darauf an, wie sich die SPD entscheidet. Die Sozialdemokraten müssen den Zweiklassenstaat zu ihrem Thema machen, weil sich mit keinem anderen Thema in Deutschland so leicht Wahlen gewinnen lassen. Was die Mitte wirklich will, ist Leistung statt Privilegien. Zudem würde die SPD auch viele linke Wähler überzeugen, weil sich dort die vom Zweiklassenstaat Frustrierten sammeln.

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1 Kommentar

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  • DJ
    Dietrich Jahn

    Karl Lauterbach fordert mit Recht von der SPD, wieder mehr für die Benachteiligten zu tun und sich darum zu kümmern, die Bildungssysteme wieder weiter zu öffnen. Nicht zu verhindern ist, dass Wohlhabende für ihre Gesundheit und für ihre Kinder immer mehr ausgeben können als der Durchschnitt. Deshalb lenkt es von der Arbeit an den Problemen ab, den Zweiklassenstaat zu thematisieren. Lauterbachs Ansatz, von allen einkommenabhängige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu fordern, ist ebenso kritisch zu sehen. Der Sozialausgleich über die Kranken- und Pflegeversicherung lässt die Gutverdiener nicht durchschauen, wie weit ihr Kassenbeitrag dem Versicherungszweck dient. Eine akzeptablere Alternative wären höhere Einkommensteuern. Die Krankenkassen könnten ihre Beiträge nach dem Prinzip der Privatversicherer berechnen und der Sozialausgleich müsste über das Zuwendungssystem erfolgen. Wie Wohngeld könnten Geringverdiener ein Gesundheitsgeld erhalten. Das Kindergeld wäre aufzustocken.