Debatte Waffenrecht: Spiele statt Waffen
Im Kaiserreich sollte die Wildwest-Lektüre für schießwütige Jungs verantwortlich sein - und nicht etwa eine ungenügende Gesetzeslage.
D ie ausufernde Lektüre von Wildwestgeschichten sei schuld an der zunehmenden Verbreitung von Schusswaffen unter Jugendlichen, erläuterten zu Beginn des 20. Jahrhunderts leitende Oberstaatsanwälte ihren Innenministern. Dass die umfangreiche Bewaffnung der deutschen Jungmänner im Kaiserreich primär in fehlenden Waffengesetzen begründet sein könnte, kam deutschen Regierungen und Juristen nicht in den Sinn.
Wer glaubt, die schlichte Argumentation, dass Karl May die Verantwortung für schießwütige Jungs trage, sei Echo längst vergangener Zeiten, wurde jüngst eines Besseren belehrt. Auch bundesdeutsche Politiker offerierten das Verbot von Spielzeugwaffen als relevante Verschärfung des Waffenrechts. Ob eine Gesellschaft Beschäftigungen wie Paintball für zweckmäßig hält, ist einer Erörterung wert - in der Rubrik Erziehung beziehungsweise Jugendschutz. Mit dem Waffenrecht und dem Schutz vor Waffengewalt haben diese Spiele nichts zu tun.
Das Spiel ist 100 Jahre alt
Unmittelbar nach dem Amoklauf von Winnenden erklärten Politiker aller Parteien unisono, eine Verschärfung des Waffenrechts sei nicht notwendig. Wenige Wochen später diskutiert die große Koalition nun eine Verschärfung des Waffenrechts, die offenbar primär dazu angetan ist, das öffentliche Bedürfnis nach einer umfassenderen Kontrolle privater Waffen zu befriedigen und gleichzeitig den Zugang zu Schusswaffen nicht wesentlich zu erschweren. Diese Konstellation ist in Deutschland seit mehr als 100 Jahren eingespielt: Öffentlichen Forderungen nach einer Einschränkung des privaten Waffenbesitzes standen jahrzehntelang politische Ignoranz und der Unwille, zu reglementieren, gegenüber.
1910 hielten leitende Staatsanwälte eine Beschränkung des Waffenbesitzes für "nicht erforderlich …, nicht zweckmäßig …, ja schlichtweg überflüssig", und selbst das Reichsamt des Innern sprach sich 1912 "gegen ein allgemeines Verbot des Waffentragens" aus. Alliierte Entwaffnungen nach dem Ersten Weltkrieg und die bürgerkriegsähnlichen Zustände der Weimarer Jahre führten schließlich, flankiert von einer machtvollen Presseberichterstattung über die Vielzahl der durch private Schusswaffen in Deutschland verletzten und getöteten Menschen, zum Gesetz über Schusswaffen und Munition. Damit wurde 1928 erstmalig der private Waffenbesitz in Deutschland gesetzlich geregelt.
Das Gesetz reduzierte vor allem die Fälle, in denen Menschen fahrlässig durch Schusswaffen verletzt oder getötet wurden, erheblich. Seine grundlegenden Prinzipien strukturieren bis heute das deutsche Waffenrecht. Bedürfnis, Zuverlässigkeit und Sachkunde sind die Schlüsselbegriffe, die den Zugang zu privaten Waffen regeln. Vor allem die Definition des Bedürfnisses wurde kontinuierlich enger gefasst und erlaubt inzwischen nur noch wenigen privilegierten Gruppen den Waffenbesitz. Zu diesen Gruppen gehören in Deutschland Jäger und Schützen. Vor allem den Schützen gelang es, ihr Waffenprivileg auch in schwierigen Zeiten zu bewahren. Das Recht der Schützen, Waffen zu tragen, war jahrhundertelang flankiert von der Pflicht, Waffen zu tragen. Diese mussten allzeit sauber und bereitgehalten werden, um die Stadt zu verteidigen. Sie mussten aus privaten Mitteln angeschafft und durften unter keinen Umständen verpfändet werden. Dass die leidige Pflicht mit dem symbolisch bedeutsamen Recht, Waffen zu tragen, versüßt wurde, war sinnvoll. So dienten die sonntäglichen Schießübungen der ballistischen Ertüchtigung ebenso wie der Freude an Technik, Präzision und Wettkampf.
Heute liegt dem Waffenprivileg schon längst keine Waffenpflicht mehr zugrunde. Diese ist seit langem auf Polizei und Bundeswehr übergegangen, deren Waffengebrauch gesetzlich präzise geregelt ist und nicht zur Debatte steht.
Aufgrund dieser Fakten hat jede Erörterung des deutschen Waffenrechts zu klären, wie das Waffenprivileg der Schützenvereine im Deutschland des 21. Jahrhunderts legitimiert werden soll. Dass es viele mögliche Antworten auf diese Frage gibt, illustrieren die unterschiedlichen Regeln, die verschiedene Gesellschaften und Länder dafür vorsehen.
Welche Idee haben wir von uns?
Ob es in der BRD erfolgreich wäre, mit den lang eingeführten Traditionen der Schützenvereine zu argumentieren, ob der Verweis auf die vielen gesetzestreuen Schützen, die einzig aus Begeisterung für ihren Sport zu den Waffen gefunden haben, stark genug wäre, eine einzigartige (waffenrechtliche) Bevorzugung zu begründen, oder ob die Öffentlichkeit jedes Risiko, das von privaten Waffen ausgeht, ablehnen würde und Waffenprivilegien nur noch im Zusammenhang mit Waffenpflichten tolerieren würde, muss endlich eine öffentliche Debatte erweisen.
Diese Debatte steht noch immer aus. Dass Politiker sie nicht freiwillig anstoßen, hängt damit zusammen, dass die Mitglieder der Schützenvereine begehrte Wähler sind. Der große Konsens innerhalb der deutschen Bevölkerung für die Einschränkung privater Waffen ist Ausdruck einer Grundüberzeugung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg konsolidierte. In diesem Sinne ist die breite und nachdrückliche Zustimmung der deutschen Gesellschaft für waffenrechtliche Beschränkungen ein politisches Bekenntnis. In ihr distanziert sich eine Zivilgesellschaft von Waffengewalt und Dominanzgebaren. Waffendebatten sind somit immer auch Symboldebatten, sie illustrieren das Selbstverständnis einer Gesellschaft. In diesem Sinne repräsentiert das Waffenrecht der Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte. Es beendete die blutigen "Wildwest-Zustände" der Kaiserzeit und verankerte die dafür erforderlichen Normen tief in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Diesen Erfolgskurs gilt es weiter voranzubringen. Wer dabei, statt grundlegende Prinzipien zu erörtern, die Bevölkerung mit dem Verbot von Spielzeugwaffen täuschen möchte, ist entweder erschreckend inkompetent oder verkennt die politische und symbolische Reichweite waffenrechtlicher Entscheidungen und verspielt damit leichtfertig historisch gewachsenes politisches Vertrauen.
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