Debatte Völkermord an Armeniern: Unsere Erniedrigung
Warum debattieren nur ausländische Parlamente über unsere Geschichte? Die Türkei muss sich dem Völkermord an den Armeniern stellen.
D ie ganze Türkei hockt gebannt vor dem Fernseher, als ob sie ein Fußballspiel verfolgen würde. Was ist bloß los? Ein Ausschuss des US-Repräsentantenhauses stimmt über den "Völkermord an den Armeniern" 1915 im Osmanischen Reich ab. Die Pässe und Schüsse hinter den Kulissen bringen nichts: Wir verlieren das Spiel 23 zu 22 [mit diesem knappen Ergebnis wurde letzten Donnerstag der Entwurf einer Resolution angenommen; d. Red.]. Und auf einmal bricht die Hölle los.
Scharfzüngige Kommentare, hitzige Debatten, zornige Kritik an den Amerikanern. Der türkische Außenminister wird gefragt, ob er den US-Luftwaffenstützpunkt in Adana-Incirlik schließen will. Inmitten all des Trubels gefällt mir der Kommentar eines wütenden Redners am allermeisten. Er sagt: "Die Türkei ist kein Land mehr, das man einfach so erniedrigen kann."
Wenn ein Ausschuss im US-Kongress den "Völkermord" als solchen anerkennt, sind wir also allesamt "erniedrigt". Wissen Sie überhaupt, was es heißt, erniedrigt zu werden? Die eigentliche Demütigung ist doch, dass Millionen von Menschen gebannt auf eine Abstimmung in Übersee schauen, mit der eine Handvoll Leuten über etwas entscheidet, was eigentlich unser Problem sein müsste. Das ist die wirkliche Erniedrigung.
ist Journalist, Schriftsteller und seit 2007 Herausgeber und Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung Taraf. Der 60-Jährige wurde im Jahr 2009 mit dem Leipziger Preis für die Freiheit der Medien ausgezeichnet.
Nägelkauend aufs Urteil warten
Demütigend ist es, das Ergebnis dieser Abstimmung als etwas "Lebenswichtiges" zu betrachten, sich durch eine Jastimme dieses Ausschusses besiegt zu fühlen - zu glauben, dass ein einziger Ausschuss über die eigene nationale Identität entscheiden kann. Sich selbst zu erniedrigen heißt, zu Hause nägelkauend auf das Urteil eines fremden Parlaments zu warten.
Die Türkei wird nicht deshalb beleidigt, weil dieser Ausschuss mit der Mehrheit einer einzigen Stimme diese Entscheidung getroffen hat. Sie ist gedemütigt, weil sie ihre Vergangenheit nicht selbst auszuleuchten vermag. Weil sie dies anderen überlässt. Weil sie eine höllische Angst vor ihrer eigenen Geschichte zu haben scheint. Weil sie offenbar alles tut, um die Wahrheit zu übertünchen.
Die eigentliche Frage ist doch eine andere: Weshalb wird über den "Völkermord an den Armeniern" in den Parlamenten der USA, Frankreichs oder der Schweiz debattiert, aber nicht in der Nationalversammlung der Türkischen Republik? Warum können wir nicht in unserem Parlament über ein Thema reden, das offenbar so "lebenswichtig" ist, dass wir glauben, wir wären auf schwerste Art und Weise gedemütigt, würden die Ereignisse als "Völkermord" anerkannt?
Jawohl. Wenn du nicht selbst über dein Problem reden kannst, wirst du eben erniedrigt. Wenn du in einer Angelegenheit, die du so wichtig findest, schweigst, dann wirst du gedemütigt. Wenn du auch noch versuchst, andere zum Schweigen zu bringen, wirst du noch mehr erniedrigt. Die ganze Welt sieht in der Ermordung von Armeniern - und wir wissen nicht einmal, wie viele es sind - einen "Völkermord".
Besessen von einem Begriff
Völkermord ist ein juristischer Begriff. Das Massaker, das die Mitglieder des 1908 an die Macht gekommenen Komitees für Einheit und Fortschritt begangen haben, erfüllt in großem Maße den mit diesem Begriff bezeichneten Tatbestand. Sowohl bei den Türken als auch bei den Armeniern ist der Begriff mittlerweile zur Obsession geworden. Während die Türken "auf keinen Fall" von einem Völkermord sprechen wollen, stellen die Armenier jeden, der auch nur leise daran zweifelt, als einen großen Lügner hin.
Beide Seiten geben Millionen von Dollar aus, um ihre eigene Version der Geschichte der Welt aufzudrücken. Zusammen haben sie beinahe geschafft, weltweit einen "Völkermord-Sektor" aufzubauen. Aber warum sind wir denn selbst nicht in der Lage, dieses Ereignis mit all seinen Facetten und Einzelheiten in unserem Parlament zu diskutieren?
Wie viele hunderttausend Armenier haben die Komiteeführer ermorden lassen? Warum haben sie das getan? Wir sagen: "Die Armenier hatten uns angegriffen, deshalb waren wir gezwungen, sie zu töten." Nun gut; konzentrierten sich die bewaffneten armenischen Banden nicht im Osten, an den Grenzen? Warum mussten auch hunderttausende von Armeniern in anderen Regionen Anatoliens daran glauben? Darf ein Mensch nur wegen seiner Volkszugehörigkeit bestraft werden? Was bedeutet es, einen Menschen nicht für eine individuelle Schuld zu bestrafen - sondern nur, weil er seine Herkunft mit Menschen teilt, die man für schuldig befindet? Das ist Mord.
Hunderttausendfacher Mord an Angehörigen eines Volks erfüllt den Tatbestand des "Völkermords". Das Komitee hat furchtbare Massaker verübt. Was man den Armeniern angetan hat, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Warum versuchen wir, diese Schuld zu verbergen? Warum verteidigen wir diese Mörder, weshalb versuchen wir, ihre Schuld zu verheimlichen? Warum winden wir uns in Demut, nur um zu versuchen, die Wahrheit zu verbergen?
Angst vor der Vergangenheit
Gesellschaften und Staaten haben alle eine blutige Vergangenheit, in der sie beträchtliche Schuld auf sich geladen haben. Wir können die Geschichte nicht umschreiben, aber den Mut aufbringen, uns ihr zu stellen. Wir können aufhören, zu versuchen, die Welt zum Schweigen zu bringen, nur weil wir Angst haben, dass sich auch die Gründer der Republik schuldig gemacht haben könnten.
Wir können Fragen stellen. Die erste Frage könnte lauten: "Warum haben wir ein Ereignis, bei dem Hunderttausende umgekommen sind, nie im Geschichtsunterricht durchgenommen?" Allein dieser Umstand müsste uns doch stutzig machen. Nur weil man nicht den Mut hat, über ein fünfundneunzig Jahre zurückliegendes Ereignis zu reden, wird man erniedrigt. Demütigend ist der Versuch, das Verhältnis, das siebzig Millionen Türken zum Rest der Welt pflegen, an eine Lüge zu knüpfen.
Niemand kann mutige Menschen, die keine Angst vor den Realitäten haben, erniedrigen. Wenn Sie sich selbst gedemütigt fühlen, dann schauen Sie in den Spiegel, und denken Sie an all das, was Sie bis jetzt unter den Teppich gekehrt haben.
Übersetzung: Dilek Zaptcioglu
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Ministerpräsidentenwahl in Sachsen
Der Kemmerich-Effekt als Risiko
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt