Debatte Staatliche Überwachungen: Zähmung der Wanzen
Regelmäßig fordert das Verfassungsgericht die Überarbeitung von Sicherheitsgesetzen. Das kostet die Politik zwar Zeit und Ansehen, erhöht aber die Akzeptanz der Gesetze
D ie Strafrunde gehört inzwischen dazu. Wenn Bund und Länder neue Sicherheitsgesetze beschließen, kann man fast darauf wetten, dass das Verfassungsgericht deren Überarbeitung fordert. Viele Beobachter sehen darin ein Indiz für den Niedergang der Rechtsstaatlichkeit. Vielleicht verfolgt das Bundesverfassungsgericht dabei aber auch seine eigenen Ziele.
Christian Rath ist rechtspolitischer Korrespondent der taz.
In den letzten Wochen hat Karlsruhe dreimal zugeschlagen: Zunächst wurde in NRW die Einführung der Onlinedurchsuchung von Computern für nichtig erklärt. Dann beanstandete das Gericht Landesregelungen zum automatischen Abgleich von Autokennzeichen mit dem Fahndungscomputer. Und nur eine Woche später schränkte Karlsruhe mit einem Eilbeschluss die polizeiliche Nutzung von Telefondaten ein, die seit Jahresbeginn auf Vorrat gespeichert werden müssen.
Solche Entscheidungen haben sich zuletzt gehäuft, weil der zuständige Richter Wolfgang Hoffmann-Riem vor seinem altersbedingten Ausscheiden noch den Schreibtisch leeren wollte. Aber sie setzen eine Serie fort, die wohl 2004 begonnen hat, als Karlsruhe den großen Lauschangriff entschärfte und Schutz für den "Kernbereich privater Lebensgestaltung" forderte. 2005 wurde dann Niedersachsen vorgehalten, dass das präventive Abhören von Telefonen nur zum Schutz von "überragend wichtigen" Rechtsgütern zulässig sein darf. Und 2006 beschränkten die Verfassungsrichter präventive Rasterfahndungen auf Fälle einer "konkreten" Gefahr.
Die Karlsruher Urteile zur inneren Sicherheit summieren sich aber nicht nur deshalb, weil der Gesetzgeber gerade besonders aktiv ist, sondern auch weil das Gericht die Hürden für derartige Klagen stark abgesenkt hat. Direkt gegen ein Gesetz können eigentlich nur Landesregierungen oder mindestens ein Drittel der Bundestagsabgeordneten klagen. Wenn jedoch ein Bürger gegen ein Gesetz vorgehen will, muss er üblicherweise persönlich betroffen sein und zunächst durch alle Instanzen klagen. Der Weg nach Karlsruhe ist erst der letzte Schritt.
Viel leichter können Bürger das Verfassungsgericht inzwischen jedoch bei neuen Sicherheitsgesetzen anrufen. Hier kann jetzt jeder sofort in Karlsruhe klagen - persönliche Betroffenheit wird nicht verlangt, weil ja niemand wissen kann, ob er heimlich überwacht wird. Unter der Hand haben die pfiffigen Richter auf diese Weise eine Normenkontrolle für jedermann installiert und sich damit natürlich vor allem selbst stärkere Kontrollbefugnisse verschafft.
Auch die Maßstäbe sind heute strenger als früher. So prüft Karlsruhe seit 2004 bei jedem neuen Gesetz, ob der Kernbereich der Persönlichkeit besonders geschützt wird - vorher war das kein Kriterium. Und für den Kfz-Kennzeichen-Abgleich wurde jüngst einfach nur ein präziseres Gesetz gefordert. Würde heute eine klassische Ermittlungsmaßnahme wie die Hausdurchsuchung oder die Zeugenvernehmung eingeführt, hätte Karlsruhe sicher viel auszusetzen. Immerhin kann bei einer Durchsuchung auch der Computer beschlagnahmt werden, und Zeugen erzählen oft allzu intime Dinge, die die Polizei nichts angehen.
Doch richtig verhindert hat Karlsruhe noch keine neue polizeiliche Ermittlungsmaßnahme, auch nicht in den letzten Wochen. Der Gesetzgeber muss zwar das jeweilige Gesetz überarbeiten und abmildern - mehr aber nicht. Im Ergebnis blieben deshalb alle umstrittenen Maßnahmen zulässig: der große Lauschangriff, die Rasterfahndung, das präventive Abhören von Telefonaten, die heimliche Ausspähung von Computern sowie der Kfz-Kennzeichen-Abgleich. Der Gesetzgeber muss zwar eine Strafrunde laufen und verliert dabei Zeit und Ansehen, kann dann aber sein Ziel weiterverfolgen.
Doch was bezweckt Karlsruhe mit dieser Strafrundenstrategie: Will man die Politiker warnen - und Gesellschaft wie Polizei für die Bedeutung der Grundrechte sensibilisieren? Das mag sicher eine Rolle spielen.
Zugleich verschafft das Verfassungsgericht den neuen Polizeibefugnissen aber auch Akzeptanz und Respekt. Gerade weil Karlsruhe fast jedes Gesetz erst einmal aufhebt, ist die später in Kraft tretende Version weitgehend außer Streit gestellt. So wird demnächst zum Beispiel die Onlinedurchsuchung von Computern im BKA-Gesetz eingeführt - vermutlich ohne stärkere Proteste. Der Bundestag muss nur die Karlsruher Vorgaben beachten, und schon wird aus einer äußerst umstrittenen Maßnahme ein offensichtlich verfassungskonformes Gesetz.
Ähnliches gilt auch für die Karlsruher Interimsentscheidung zur Vorratsdatenspeicherung. Einerseits darf die Polizei die zwangsgespeicherten Daten zunächst nur zur Aufklärung schwerer Straftaten nutzen. Andererseits blieb die von den Klägern eigentlich kritisierte Vorratsspeicherung der Verbindungsdaten in Kraft. Die Kläger waren dennoch zufrieden. Und Peter Schaar, der Bundesdatenschutzbeauftragte, wertete den Eilbeschluss als Zeichen für das Funktionieren unseres Rechtsstaats.
In der Bundespolitik nimmt man solche Effekte gerne mit. So war es die Strategie der SPD, die Entscheidung über die Onlinedurchsuchung auszusetzen, bis das Verfassungsgericht entschieden hat. Nachdem Karlsruhe nun klare und leicht zu erfüllende Auflagen gemacht hat, kann SPD-Justizministerin Brigitte Zypries der fragwürdigen Computerausspähung leichten Herzens zustimmen.
Karlsruhe schafft es so immer wieder, sowohl Sicherheitspolitiker als auch Bürgerrechtler zufriedenzustellen. Die Bekämpfung von Terroristen und sonstiger Kriminalität kann damit auf hohem technischem Niveau weitergehen - während die Karlsruher Vorgaben zugleich sichern, dass die Maßnahmen nicht zu häufig und zu intensiv eingesetzt werden. Jüngst wurde sogar ein Computergrundrecht mit besonders hohen Eingriffshürden erfunden. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel bleibt so gewahrt.
Grundsätzlich ist das zu begrüßen. Was aber auf der Strecke bleibt, ist das Bedürfnis der Bürger nach echten Freiräumen, in denen der Staat definitiv nichts zu suchen hat. Karlsruhe reduziert zwar die Wahrscheinlichkeit, dass unter dem Bett eine Wanze platziert wird, das Gericht kann und will dies aber nicht völlig ausschließen. Schließlich gehören Gespräche über Straftaten nach Karlsruher Auslegung nicht zum "Kernbereich privater Lebensgestaltung" - egal wo und wie sie geführt werden. Selbst die polizeiliche Auswertung von Tagebüchern lässt das Verfassungsgericht in Einzelfällen zu. Der angeblich absolut geschützte "Kernbereich" des Persönlichkeitsrechts ist bisher also vor allem ein Popanz zur Beruhigung der kritischen Öffentlichkeit.
Gerade die kreativen Leistungen der Verfassungsrichter verhindern bisher eine politische Debatte darüber, ob die Gesellschaft nicht doch lieber bestimmte Lebensbereiche wirklich staatsfrei halten will - mit allen Risiken, dass dies auch missbraucht werden könnte.
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