Debatte SPD-Programmpapier: Parodie für die Mittelschicht
Die SPD hat ein ganz seltsames Programmpapier verfasst. Wesentlicher Inhalt: Weiter so. Ideen fehlen. Es wird einfach nur behauptet, dass Vollbeschäftigung möglich ist.
Ulrike Herrmann ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz. Sie beschäftigt sich mit der Spaltung der Gesellschaft - und der Frage, wie diese durch die Steuer- und Sozialpolitik des Staates noch verschärft wird.
Der Titel war nicht einmal schlecht: "Zukunftskonvent" nannte die SPD ihr parteiinternes Treffen in Nürnberg. Das klang nach Visionen, nach Mut und nach einer Ideen-Werkstatt, an der sich jeder beteiligen kann. Tatsächlich jedoch stand schon vor dem Konvent fest, wie sich der SPD-Vorstand die Zukunft denkt. "Aufstieg und Gerechtigkeit" heißt das 11-seitige Papier, das pünktlich zum Nürnberger Treffen herauskam. Mit diesem Text ist es der SPD-Führung gelungen, das wahrscheinlich seltsamste Wahlprogramm der bundesdeutschen Geschichte zu verfassen. Zukunft ist dort einfach die Verlängerung der Gegenwart. Bis 2011 bleibt alles wie gehabt. Der Haushalt wird saniert, basta. Warum man unter dieser Prämisse einen "Zukunftskonvent" veranstalten muss, bleibt das Rätsel der SPD. Trotzdem ist das Papier instruktiv, wenn man verstehen will, warum die SPD in den neuesten Umfragen auf den historischen Tiefpunkt von 21 Prozent abgerutscht ist.
Das beginnt schon mit dem irritierenden Satz "Vollbeschäftigung ist möglich", der wenig später wiederholt wird als "Wir bekräftigen unser Ziel der Vollbeschäftigung". An dieser Aussage ist nicht nur verstörend, dass einfach hinwegdefiniert wird, dass offiziell 3,28 Millionen Menschen arbeitslos sind - und real etwa 5 Millionen eine Erwerbstätigkeit suchen dürften. Noch erstaunlicher ist, dass die SPD gar keine Vorschläge unterbreitet, wie die Zahl der Jobs steigen soll. Die Vollbeschäftigung passiert einfach, weil die Sozialdemokraten daran glauben.
Da werden sie aber noch lange auf ein Jobwunder hoffen müssen, wenn man der Vorausschau traut, die das Prognos-Institut einst für die Rürup-Kommission angestellt hat. Im Jahr 2002 schätzten die Experten, dass erst 2030 mit einer Vollbeschäftigung in Deutschland zu rechnen sei - und zwar völlig unabhängig von den politischen Maßnahmen. 2030 wird endlich jeder Erwerbsfähige eine Arbeit finden, schlicht weil die Bevölkerung schrumpft. Bis dahin aber ist mit hohen Arbeitslosenquoten zu rechnen; 2020 soll sie zum Beispiel immer noch 7 Prozent betragen.
Diese eher triste Zukunft kommt in der SPD-Logik schon deswegen nicht vor, weil man sich von Momentaufnahmen blenden lässt. Stolz wird darauf verwiesen, dass allein im vergangenen Jahr 631.000 reguläre Arbeitsplätze entstanden seien. Stimmt. Und trotzdem ist diese Volksverdummung immer wieder ärgerlich. Denn in jedem Boom entstehen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Das war auch schon beim letzten Aufschwung rund ums Jahr 2000 so, als noch niemand von den Hartz-IV-Gesetzen oder erleichterter Leiharbeit gehört hatte. Viel aussagekräftiger ist daher eine Vergleichszahl, die von der SPD jedoch sorgsam verschwiegen wird: Seit September 2000 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen um etwa 1 Million gesunken - von damals 28,285 Millionen auf jetzt 27,23 Millionen. Dieser Schwund ist dramatisch, denn diese regulären Stellen finanzieren den Sozialstaat.
Die SPD zitiert daher lieber eine andere Zahl, um ihre Hoffnung auf Vollbeschäftigung zu untermauern: Inzwischen seien schon 40 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig! Ach ja? Und als was? Dazu schweigt die SPD.
Einen Aufschluss über den realen Alltag in Deutschland kann letztlich nur eine Stichprobe bei den Haushalten ergeben, wie sie das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) durchführt. Danach ist die Armutsquote von 1998 bis 2005 von 12 auf 18 Prozent gestiegen. Doch diese Zahlen tauchen im SPD-Vorstands-Text gar nicht erst auf. Nur verschämt wird erwähnt, dass "zu viele Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft vom Wachstum nicht gewonnen" hätten. Abhilfe ist jedoch vorerst nicht in Sicht. Erst ab 2012 will die SPD die Sozialabgaben für Gering- und Durchschnittsverdiener sukzessive senken - wenn der Haushalt saniert ist.
Und auch danach ist Geduld angesagt: Bis 2018 soll es dauern, bis die Beitragsquote von 40 auf dann 36 Prozent gesunken ist. Aber selbst dies ist nur Theorie, denn faktisch handelt es sich um eine Luftbuchung. Es sollen nämlich nur zusätzliche Steuermilliarden in dieses Projekt investiert werden, die durch das Wirtschaftswachstum anfallen. Ein Abschwung wird gar nicht erst eingeplant, obwohl dies der konjunkturellen Logik entsprechen würde. So sehen also die Zukunftsvisionen der SPD aus: Es werden Steuermilliarden verplant, die es noch gar nicht gibt, für eine Armutsbekämpfung, die ab 2012 beginnen soll, obwohl das Problem jetzt schon drängt.
In diese Absurditäten verstricken sich die Sozialdemokraten, weil sie auf gar keinen Fall die Einkommensteuer für die Besserverdienenden erhöhen wollen. Damit aber fehlen die Mittel, um die Gering- und Durchschnittsverdiener bei den Sozialbeiträgen zu entlasten. Nur die Reichensteuer will die SPD verschärfen: Dieser Spitzensteuersatz von 45 Prozent soll bei Ledigen schon ab einem Jahreseinkommen von 125.000 Euro und bei Verheirateten ab 250.000 Euro fällig werden. Momentan liegen die Sätze doppelt so hoch. Die Reichensteuer lässt sich bestimmt ertragreicher gestalten - bisher zahlt sie nämlich fast niemand, wie der neue Armuts- und Reichtumsbericht ausweist. Ganze 0,16 Prozent der Steuerzahler fallen unter die Reichensteuer.
Die Reichensteuer ist aber nicht nur ineffektiv - sie ist auch ein seltsames Konstrukt. Es widerspricht jeder Logik von Steuerprogression, wenn ab einer beliebigen Einkommensgrenze plötzlich eine Art Sondersteuer fällig wird. Konsequenter wäre es, die Progression linear weiter nach oben zu verlängern. Die Spitzenverdiener könnten durchaus mehr Steuern verkraften, wie dem Armuts- und Reichtumsbericht zu entnehmen ist: Selbst die obersten zehn Prozent der Steuerzahler zahlen im Durchschnitt nur 24 Prozent. Damit sind die Spitzenverdiener deutlich geringer belastet als ein durchschnittlicher Single, der laut OECD-Statistik insgesamt 52,2 Prozent seiner Arbeitskosten an Steuern und Sozialabgaben abzuführen hat.
Statistiken belegt es wieder: Deutschland entwickelt sich zurück in eine Klassengesellschaft. Da ist es besonders merkwürdig, dass ausgerechnet jene Partei so sprachlos und ohne Visionen ist, die einst durch die Klassenauseinandersetzungen groß geworden ist - eben die SPD.
Daraus lässt sich wohl folgern, dass das Konzept der Sozialdemokraten nicht mehr aufgeht, auf die "Mitte" zu zielen, die wahlweise auch "neue Mitte" heißt und für die im jetzigen Papier der schöne Begriff der "solidarischen Mehrheit" gefunden wurde. Denn wer ist das? Die SPD-Definition wirkt hilflos. Es seien die "wirklichen Leistungsträger", wird mitgeteilt, bevor die Erläuterung zu dem Satz findet: "Sie sorgen für ihre Kinder." Sind Singles also für die SPD nicht interessant? Oder soll unterstellt werden, dass Spitzenverdiener ihren Nachwuchs vernachlässigen? Das SPD-Papier ist seltsam. Wer nicht wüsste, dass es von den Sozialdemokraten stammt, könnte es für eine Parodie halten. ULRIKE HERRMANN
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