Debatte Recht auf Asyl: Die Barbaren sind da
In der EU wird das Recht auf Asyl immer weiter eingeschränkt. Und was machen wir? Wir sehen dem Abbau dieses Grundrechts zu. Das sagt viel über uns aus.
U nd ich sage euch, wenn ein Verlorener zu euch kommt, gewährt ihm Zuflucht, nehmt ihn auf, verköstigt ihn, lasst ihn teilhaben an der Wärme eures Herdes und eures Herzens …
Etwa so oder so ähnlich, jeweils unterschiedlich beschworen, im Kern aber gleich, wird seit Menschengedenken das Prinzip formuliert, das bei Homer die Barbaren von den Zivilisierten trennt: das Asyl, laut Ovid der ruhmreichste Akt der Menschlichkeit. Flüchtende müssen in Frieden empfangen werden, müssen Schutz erhalten, egal ob es sich um Benachteiligte oder Unterdrückte, um Verbannte oder Geächtete, um geflohene Sklaven oder ausgerissene Gefangene handelt.
Das Asyl birgt die letzte Hoffnung für all jene, die jede Aussicht auf Gerechtigkeit verloren haben; das Asyl verkündet: Es gibt ein Leben nach der Niederlage, nach dem Untergang.
Was sagt es also über unsere Gesellschaft aus, dass in der Europäischen Union das Recht auf Asyl nur noch eingeschränkt gilt und wir dem Abbau dieses Grundrechts über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte hinweg lethargisch zusahen?
Wir stöhnen, während andere die Last tragen
44 Millionen Menschen sind gegenwärtig auf der Flucht. Während ihre Zahl weltweit zunimmt, nimmt sie in Europa ab. Die Entwicklungsländer beherbergen vier Fünftel aller Flüchtlinge. Nur zwei Prozent der Menschen, die im ersten Halbjahr dieses Jahres aus Libyen geflohen sind, haben den Weg nach Europa eingeschlagen. Mit anderen Worten: Wir stöhnen, während andere die Last tragen.
Allein im Frühjahr dieses Jahres sind mehr als 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Das ist ein Skandalon, dessen schmerzliche Konturen man in abstrakten Diskursen auflösen kann, ohne dass sich dadurch etwas an der Verwerflichkeit der Zustände ändern würde.
ILIJA TROJANOW ist Schriftsteller und Weltensammler. Mit seiner Kollegin Juli Zeh veröffentlichte er zuletzt "Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte" (Hanser Verlag).
Wir führen gerne Wörter wie Menschenrechte ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") im Mund, wir haben es uns in Nischen der Humanität gemütlich gemacht; was unser System und unser Wirken verwerflich macht, blenden wir aus, rationalisieren es weg. Könnten wir gemeinschaftlich in den Spiegel schauen, würden wir das Zerrbild einer Gesellschaft erkennen, die sich von dem Gedanken der Solidarität und Empathie zunehmend verabschiedet.
Liegt es daran, dass wir den Flüchtling nicht am heimischen Herd empfangen und nicht in unserer Kirche beherbergen, weil wir ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, weil er aufgefangen wird, bevor er uns erreichen kann? Liegt es also daran, dass Schutzgeber und Flüchtling kaum mehr aufeinandertreffen und unsere Reflexe und Instinkte nicht wirken können? Wenn zwei Menschen sich jenseits behördlicher Strukturen begegnen, öffnen sich meist die Schranken der Voreingenommenheit, der Ignoranz. Man sieht den anderen, sieht ihn wirklich und erkennt mit einem Blick in der Differenz zwischen zwei Leben schmerzhafte Unterschiede. Solche Begegnungen entlarven die brüchige Beschaffenheit des Wortes "Mitmensch".
Berüchtigte Sperranlagen
Es gibt Ungerechtigkeiten, die von einem einzelnen Foto eingefangen werden können - links Kinder im Schwimmbecken, rechts Frauen mit Kanistern vor einer Wasserpumpe -, doch für das Aufeinanderprallen von Flüchtlingen und Alteingesessenen braucht es viel mehr als ein Bild, weil es nicht unmittelbar stattfindet. Das Versagen der Asylpolitik und der zivilisierten moralischen Impulse erkennt man an den Mauern und Zäunen, die weltweit errichtet werden.
Manche sind berühmt und berüchtigt, wie die Sperranlagen (759 km lang) zwischen Israel und dem Westjordanland oder der Zaun zwischen den USA und Mexiko (1.078 km lang), andere weniger, wie etwa die 4.000 Kilometer lange Barriere zwischen Indien und Bangladesch, und wiederum andere sind erst in Planung, wie der 206 Kilometer lange Grenzzaun zwischen Griechenland und der Türkei. Diese Trennungen leisten Ghettoisierungen Vorschub, und das Ghetto ist bekanntlich die Brutstätte von Ressentiments und Vorurteilen, und zwar auf beiden Seiten der Mauer.
Zudem geht von jedem Flüchtling eine Irritation aus, denn so machtlos und entrechtet er ist, so sehr beunruhigt er uns, indem er die Ordnungsmuster unseres gesellschaftlichen Alltags infrage stellt. "Lieber nicht einmischen", sind wir geneigt zu denken. Wir wissen zwar einiges, denn die Medien berichten doch immer wieder punktuell aus den Vorhöfen der Hölle an unseren Grenzen, und doch wollen wir diese Einblicke in eine unvorstellbare Verzweiflungslandschaft wie so vieles andere nicht wahrhaben.
Die Verzweiflungslandschaft
Wir nehmen es hin, weil wir glauben, dass es gegenwärtig anders nicht sein kann. Die Not der Flüchtlinge ertragen wir mit großer Abgeklärtheit. Das dürfte nicht sein, aus vielerlei Gründen, von denen vielleicht keiner schwerwiegender ist als die begründete Sorge, dass wir dadurch selbst Schaden nehmen könnten. Die Unmenschlichkeit, die wir dulden, entmenschlicht uns selbst.
Dies früh erkannt zu haben und von Anfang an für ein Menschenrecht auf Asyl gekämpft zu haben ist das große Verdienst der Organisation Pro Asyl, die diese Woche ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. So verroht sind inzwischen die behördlichen und paramilitärischen Gepflogenheiten, dass diese NGO für die Einzelfallprüfung für minimale rechtliche Standards kämpfen muss.
Die Mitarbeiter mussten als Journalisten und Detektive tätig werden, vor allem in Griechenland, wo die Recherchen von Pro Asyl unzumutbar menschenverachtende Zustände in den dortigen Auffanglagern detailliert dokumentiert haben, was wiederum entscheidend das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 21. Januar 2011 beeinflusste, die Abschiebung von Asylbewerbern von Belgien nach Griechenland als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu verurteilen.
Es wäre schöner, wir bräuchten eine Organisation wie Pro Asyl nicht, aber solange Flüchtlinge als vogelfrei gelten und kaum jemand sich um ihren Schutz kümmert, ist es wunderbar, dass es Pro Asyl gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund