Debatte Prozess-Absprachen: Wer sich Verbrechen leisten kann

Der Fall des Steuerhinterziehers Zumwinkel hat es wieder gezeigt: Je wohlhabender der Delinquent und je trickreicher die Tat, desto milder die Justiz. Das soll jetzt Gesetz werden.

Der Volksmund weiß zu erzählen, wie gleich wir Menschen vor den Strafgerichten sind: "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen." Das ist so nicht ganz richtig.

Denn erstens wird in der Bundesrepublik Deutschland niemand mehr gehängt, und zweitens lässt man die Großen nicht einfach laufen, sondern handelt mit ihnen das Strafmaß aus. Wer bei uns eine Bank ausraubt, erhält in der Regel eine Haftstrafe. Wer seine Bank anweist, den Staat auszurauben, indem er Millionen an der Steuer vorbeischafft, verlässt immer öfter den Gerichtsaal mit einer Bewährungsstrafe "als freier Mann". Die Kleinen bestraft man, mit den Großen wird gedealt - so heißt es richtig. Und es ist trotzdem falsch.

Denn der Handel mit der Gerechtigkeit ist falsch. Er verletzt ein tragendes Grundprinzip der rechtstaatlichen Demokratie: die Gleichheit der Menschen vor dem Recht. Manche juristischen Prinzipien kann man vielleicht folgenlos verletzen. Andere Prinzipien sind der Kitt einer ganzen Gesellschaft. Wer sie beschädigt, rührt an den Selbstverständlichkeiten, die einem Land seinen sozialen Frieden geben.

Die Gleichheit vor dem Recht ist so ein friedenstiftendes Prinzip. Denn nur ein für alle gleiches Recht kann auch von allen gleichermaßen akzeptiert werden. Doch im Bundestag wird derzeit über einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen beraten, der den Deal in Strafsachen legalisieren will. Die Koalition argumentiert, der Deal im Strafverfahren sei eine lang gewachsene Praxis, die der Justiz die Arbeit erleichtere, jedoch zu einigen negativen Ausnahmefällen geführt habe und deshalb der gesetzlichen Klärung bedarf. Damit sagt sie, der Deal sei etwas grundsätzlich Notwendiges, dessen Risiken in den Griff zu bekommen wären. In Wahrheit erhebt die Koalition eine gefährliche Prinzipienverletzung zum Prinzip.

Bankräuber und Steuerbetrüger sind real ungleich. Ihre materielle Situation unterscheidet sich. Der Erste versucht, durch die Straftat Reichtum zu erlangen, der Zweite möchte durch die Tat seinen Reichtum mehren. Der Bankräuber entzieht sich der sozialen Pflicht, sein Vermögen gesetzestreu zu erlangen. Der Steuerbetrüger stiehlt sich aus seiner sozialen Pflicht, zur Finanzierung von Schulen, Straßen und sozialer Sicherheit beizutragen. Beide Verbrechen sind grob asozial. Ein Staat, der weder die Banken noch sich selbst ausgeraubt sehen will, muss einen verbindlichen Ordnungsrahmen errichten, der beides verhindert. Das erreicht der Staat nicht schon, indem er ein Recht schafft, das sowohl Bank- als auch Staatsraub unter Strafe stellt. Der Staat muss zusätzlich dafür sorgen, dass beide Verbrechensformen auch gleichermaßen erfolgreich angeklagt, aufgeklärt und durchgeurteilt werden können. Aber Bankräuber und Steuerbetrüger sind auch vor Gericht real ungleich. Die prozessuale Praxis unterscheidet sich deutlich.

Das Verbrechen des Bankräubers kann eine simple Überwachungskamera festhalten. Zur Tataufklärung genügt dann die Vorlage eines Videobandes. Ganz anders sieht es in Steuerstrafsachen aus. Für eine erfolgreiche Aufdeckung trickreich verschleierter Vermögenslagen und intelligent getarnter Geldwege bedarf es aufwändiger Ermittlungen. Doch die Justiz ist seit Jahren personell und sachlich unzureichend gerüstet. Aus der Not der Justiz entsteht ihre Neigung, dem Steuerverbrecher einen Handel anzubieten: Für seine Mithilfe bei der Aufklärung der Tat erhält er Strafmilderung - meist in Form einer Bewährungsstrafe - zugesichert. Der Deal beinhaltet eine Vereinbarung über einen Leistungsaustausch: Die Leistung des Angeklagten besteht im Verzicht darauf, die personelle Schwäche des Rechtsstaats erkennbar zu machen. Die Gegenleistung des Rechtsstaats besteht im Verzicht auf eine schuldangemessene Strafe. So wird das Strafgesetzbuch zum Gesetzbuch für einen Handel.

Es ist paradox: Der wohlhabende Angeklagte sorgt mit der von ihm selbst zu verantwortenden hohen Komplexität der Tat für eine überforderte und genau deshalb milde gestimmte Justiz. Das einfach strukturierte Unterschichtendelikt des Bankraubs hingegen vermag diese Art der Milde niemals auszulösen. Zu seiner Aufklärung reichen die Mittel der Justiz allemal.

Den klassenbewussten Handel mit der Milde befördert der Umstand, dass Steuerverbrecher von Format wesentlich besser anwaltlich vertreten sind als Bankräuber. Die Zumwinkels dieser Welt leisten sich hochintelligente und bestbezahlte Meister der Strafverteidigung. Sie sind intellektuelle Kampfsportler in der Disziplin der Konfliktverteidigung. Diese Anwälte tragen den höchsten juristischen Dan, und sie signalisieren Verhandlungsbereitschaft. Sie wissen genau, dass man sich lieber vor ihnen verneigt, als mit ihnen zu kämpfen.

Doch der Staat darf sich nicht verneigen. Wenn alle Menschen gleichermaßen das Strafrecht zu befolgen haben, so muss dieses Strafrecht den Menschen auch mit gleichen Maßstäben gegenübertreten. Strafe und Milde dürfen nicht zur Verhandlungsmasse werden. Sie stehen nicht zur Disposition weniger Wohlhabender. Es ist der Natur des Strafverfahrens fremd, dass der Angeklagte - nicht zuletzt wegen seiner überlegenen finanziellen Mittel - über den Ablauf und den Ausgang des Strafverfahrens maßgeblich mitbestimmt. Diese Macht gehört allein in die Hände des demokratischen Staates.

Der Gesetzentwurf der Koalition darf nicht Gesetz werden. Nötig ist nicht die Legalisierung des Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht geringfügigen Straftaten.

Im Entwurf der Koalition heißt es, die angestrebten Neuregelungen seien alternativlos. Das stimmt nicht. Die Justiz dealt, weil ihr die Mittel fehlen, komplexe Vermögensdelikte selbst aufzuklären. In der Verantwortung der Politik liegt es also, diese Mittel bereitzustellen. Das ist die Alternative. Die Legalisierung des Deals aber gefährdet sogar dieses Ziel. Denn Steuerstraftäter wissen dann genau, dass geschickt geplante Taten fast zwangsläufig zu gedealten, milden Urteilen führen. Das senkt die Steuermoral. Es verschlechtert die Einnahmesituation des Staates. Es verhindert in der Tendenz politische Entscheidungen für eine verbesserte Ausstattung der Justiz. Der Deal führt so zum Deal zurück. Das nennt man gemeinhin einen Teufelskreis. Teufelskreise sind in Wahrheit keine Kreise. Sie sind mehr wie destruktive schwarze Löcher, die fortwährend wachsen und dabei alles umliegende Konstruktive zerstören, zum Beispiel den sozialen Frieden einer Gesellschaft.

Die gesetzliche Normierung des Deals kann der Anfang einer Entwicklung sein, an deren Ende die Straftat eine Ware ist, die man sich entweder leisten kann oder nicht. Wir müssen diese Entwicklung jetzt aufhalten. Gerade weil uns deren mögliches Ende heute noch absurd erscheint. Denn wenn es uns nicht mehr absurd erscheint, wird es für Widerstand bereits zu spät sein. WOLFGANG NESKOVIC

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