Debatte Protestkultur: Den Zorn kultivieren
Wer stets den Konsens fordert, gefährdet die Demokratie. Daher: Keine Angst vor sozialen Unruhen, wir brauchen sie!
D ie Furcht vor "sozialen Unruhen" ist die Folge einer Vorstellung von "sozialem Frieden", die im Justemilieu der alten Bundesrepublik ihren Ursprung hat. Dieser Vorstellung zufolge spannte sich über den Sozialpartnern der Himmel des sozialen Konsenses. Ihn galt es stets zu bewahren und im Falle eines Konflikts so bald als möglich wiederherzustellen.
Die am Konsens als Ziel aller sozialen Auseinandersetzungen orientierte Politik verweigert sich der Einsicht, dass die modernen kapitalistischen Industriegesellschaften von dauerhaften sozialen Konflikten durchzogen sind. Sie können mittels demokratischer Institutionen ausgetragen, durch zeitweilige Kompromisse besänftigt, aber nie so beigelegt werden, wie es die harmonisierende Theorie des sozialen Konsenses verspricht.
Nur von den Interessengegensätzen her kann sich im ökonomischen, politischen und moralischen Bereich die Unterscheidung von links und rechts herleiten, das heißt der Kampf um die Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Und weil das so ist, erklärt die marktliberale Theorie "links" und "rechts" für atavistisch, für historisch überholt.
Ob nun vor "sozialen Unruhen" gewarnt wird oder ob die Anklage erhoben wird, die "sozialen Unruhen" würden herbeigeredet, stets wird diese Rede vom Bild ungezügelter, überbordender Leidenschaften geprägt. Von einer Emotionalität, die den rationalen Interessenausgleich gefährdet und letztlich die demokratischen Institutionen bedroht. Unter diesem Blickwinkel scheinen Leidenschaften in der Politik stets verdächtig. Sie schaffen ein Chaos, das dem Rechtsradikalismus den Weg bereitet.
Tatsächlich aber setzt der Gebrauch von und der Einsatz für demokratische Institutionen ein leidenschaftliches Engagement voraus - das allerdings bildet sich nur bei klar unterscheidbaren, gegensätzlichen politischen und ethischen Orientierungen. Wohingegen der ständige Appell an die "Gemeinsamkeit der Demokraten" zur Entpolitisierung führt, von der schließlich die Rechtsradikalen profitieren.
In der medial geschürten öffentlichen Vorstellungskraft dominiert, wenn von "sozialen Unruhen" die Rede ist, die Nachtzeit, wo die Autos brennen, Molotowcocktails und Steine auf die Ordnungskräfte niederprasseln, wo es keine Ansprech- und Verhandlungspartner aufseiten der Marodeure gibt. Es werden keine Forderungen erhoben, blinde, sich periodisch erneuernde Zerstörungswut regiert. Tatsächlich gab und gibt es, wie zuletzt in der Pariser Banlieue, solche Eruptionen des Hasses auf die Machteliten. Sie verleihen der Empörung Ausdruck, können ihr aber nicht zum Recht verhelfen. Es fehlt an der politischen Übersetzung.
Wie muss eine Institution beschaffen sein, die die elementare Wut aufnimmt, sie auf Dauer stellt, ihr politische Stoßkraft gibt, ohne sie zu domestizieren? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in seinem Buch "Zorn und Zeit" für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Transformation der Wut in "Hasskonserven" festgestellt, die ihrerseits in eine "Zornbank" überführt werden konnten. So abwegig Sloterdijks Vergleich revolutionär-sozialistischer Organisationen mit der Tätigkeit einer Bank ist, in die man einlegt und von der man Zinsen erwartet: Die mit dem Vergleich verbundene Problemstellung, die nach Dauer und Festigkeit politischer Leidenschaften fragt, erweist sich als produktiv.
Wut und Zorn, oft synonym gebraucht, müssen voneinander unterschieden werden. Im Begriff des Zorns schwingt im Gegensatz zur Wut stärker das Gefühl mit, dass die Gerechtigkeit verletzt, das Stolz und Würde der Menschen mit den Füßen getreten worden sind. Gottes Zorn trifft diejenigen, die seinen Bund mit dem Menschen verletzt haben. Der Zorn der Werktätigen trifft diejenigen, die den Sozialpakt aufgekündigt haben. Zorn frisst sich ein, kann andauern. Die massenhafte Zornproduktion erlebte ihren ersten Aufschwung, als Schröders "Agenda 2010" ins Werk gesetzt wurde. Es folgte der Abschwung. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise, also seit 2008 akkumuliert sich erneut der Zorn.
Jedoch hat in Deutschland die Zornakkumulation bislang nicht ausgereicht für einem neuen Zornschub, für soziale Aktionen. Ein Teil der Erklärung liegt in der Demobilisierung der ArbeiterInnen, die der Niederlage im Kampf gegen Harz IV folgte. Weil dies so ist, scheinen die Gewerkschaften die Zornkonserven fest verschlossen zu haben. Aber kann daraus geschlussfolgert werden, dass die möglichen Träger "sozialer Unruhen" unter der Arbeiterschaft fest im Griff sind? Dass sich Aktionen, bei denen sich die Emotionalität der Zornigen Bahn bricht, auch künftig ausgeschlossen sind?
Selbst seitens linker Aktivisten wird bei uns die Meinung vertreten, Zornaktionen wie in Frankreich oder Großbritannien seien in Deutschland einfach undenkbar. Dafür sorge schon der tief eingefressene Legalismus der deutschen Arbeiterbewegung. Betriebsbesetzungen? Chefs einsperren und zu Verhandlungen über einen Sozialpakt zwingen? - Nicht bei uns!
Wer so redet, handelt nach der Maxime "Alles verstanden, nix kapiert". Juristisch betrachtet erfüllt jede erfolgreiche Straßenblockade bei uns den Straftatbestand von Nötigung respektive Freiheitsberaubung. Gleiches gilt von Ketten gegen Streikbrecher. Solche Aktionen teilen mit dem zivilen Ungehorsam ein sorgfältiges Kalkül der eingesetzten Mittel.
Schon jetzt wird die Sorge vor "sozialen Unruhen" und deren möglicherweise kriminellen Charakter von der Bevölkerung nicht geteilt. Laut jüngster Umfragen äußerten 58 Prozent der Befragten in Berlin, sie hätten Verständnis für gewalttätige Proteste und Demonstrationen in Frankreich, die sich gegen Banker und Manager richten.
Wer sagt eigentlich, dass vom Zorn angeschobene und alimentierte Aktionen nicht zu vernünftigen Ergebnissen führen können? Wer ist sich so sicher, dass es immer einer zentralisierten Führung bedarf, damit die eingesetzten Kampfformen nicht außer Kontrolle geraten? Keine Angst vor sozialen Unruhen, wir brauchen sie!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz