Debatte Politiker und Charisma: Mama, Papa, Staat
Der Wahlkampf öde, seine Protagonisten medioker? Merkel und Steinmeier sind genau die Figuren, nach denen sich in der Krise alle sehnen.
I n monotoner Gleichförmigkeit lesen wir seit Wochen überall, wie langweilig dieser Wahlkampf doch sei. Und das angesichts der größten Finanzkrisen seit Kriegsende. Das sei doch ein Widerspruch! Aber ist es denn wirklich einer?
Ist dies nicht vielmehr nur dann ein Widerspruch, wenn wir von der Erwartung ausgehen, Politik habe sich - zumindest in Wahlkampfzeiten - den charismatischen Formen von Herrschaft anzunähern? Es gibt da verschiedene Spielarten.
Der Ruf danach kann dem Bedürfnis entsprechen, mobilisiert zu werden (ein Bedürfnis, das sich seiner eigenen Paradoxie meist nicht bewusst ist). Dafür braucht es den mitreißenden, den leidenschaftlichen Politiker, der sein Publikum entflammt. Ebenfalls in diesem Spektrum findet sich die Sehnsucht nach Bewunderung - nicht für sich selbst, sondern nach Bewunderung eines Anderen. Dafür braucht es einen Helden. Und es gibt noch eine weitere Variante - das Verlangen, ein Politiker möge an unserer Stelle genießen. Das erfüllen jene Politiker - immer Männer übrigens - von Clinton, über Berlusconi bis Jörg Haider, deren Eskapaden oder deren flotter Lebensstil ihre Aura ebendeshalb nur noch stärken. Sie genießen stellvertretend für ihr Publikum, das es ihnen mit Hingabe dankt. Aus solcher Perspektive war dieser Wahlkampf natürlich ein emotionales Verlustgeschäft.
Nun ist es aber so, dass die Bindung dieser Sehnsüchte in den letzten Jahren ganz andere Protagonisten übernommen haben. Die paradigmatische Figur des sich selbst ermächtigenden Subjekts, das zugleich souveräner Handelnder und Abenteurer zu sein schien, war der Börsenbroker. Bis vor einem Jahr. Damals verlor diese Figur aber auf einen Schlag all ihren Glanz. Die Helden des leichten Geldes haben doppelt abgewirtschaftet - real und als Figur. Und Politiker wollen, können und dürfen deren Aura - die sich nunmehr in ein Karma verwandelt hat, um in der Metaphorik zu bleiben - nicht einmal streifen.
War Schröder noch der "Genosse der Bosse", so gibt es heute das dringende Bedürfnis nach einer starken Abgrenzung von allem, was auch nur in den Ruch des schnellen Geldes und damit des Abenteuerlichen kommt. Darum bemüht sich Schröders ehemaliger Adlatus Steinmeier ebenso sehr wie Angela Merkel. Jetzt ist der Zeitpunkt, in dem sich die Politik als das ganz Andere als die Ökonomie darstellen muss. Denn die Ökonomie ist in wahnwitziger Weise implodiert und hat sich entgegen ihrem Versprechen als paradigmatischer Ort gesellschaftlicher Irrationalität erwiesen.
Die Politik muss sich also scharf abgrenzen. Sie muss jeden Anflug von Exzess, von Außerwerktäglichem, wie es bei Max Weber heißt, vermeiden, sie muss zum Pol der Vernunft werden. Das braucht sie nicht nur zu ihrer eigenen Rettung. Dessen bedarf die Gesellschaft insgesamt. Deshalb muss das politische Personal nicht nur real vernünftig und effizient die schlimmsten Auswirkungen eines Desasters, das Finanzdesperados verursacht haben, abfangen; die Politik muss uns auch im Symbolischen dementsprechende Figuren zur Verfügung stellen - und das sind Figuren einer politischen Vernunft, die keinerlei charismatische Merkmale aufweisen dürfen.
Wenn Elke Schmitter im Spiegel schreibt, diese Politikerfiguren scheinen erstarrt, "zufrieden, exemplarischer Durchschnitt zu sein", so trifft das alles natürlich zu. Aber es ist kein Grund zum Lamentieren!
Im Gegenteil. Die beiden Hauptakteure dieses Wahlkampfs entschlagen sich jeglichen Charismas, um eine seltsame Verbindung jener beiden anderen Herrschaftstypen einzugehen, die Max Weber ausgemacht hat. Sie verbinden Elemente der legalen Herrschaft mit Elementen der traditionalen Herrschaft. Erstere bezeichnet eine bürokratische Ordnung, deren zentrale Figur der Beamte ist, der sich durch fachliche Qualifikation und Kompetenz ausweist. Letztere ist eine patriarchalische Ordnung. Eine Funktion, die offenbar auch eine Frau innehaben kann. Diese wird dann eben zur Landesmutter statt zum Landesvater.
Entscheidend ist, dass diese beiden Figuren im Unterschied zum charismatischen Herrscher keiner affektiven Bindung bedürfen. Stattdessen brauchen sie ein Amalgam von Interessen, Vernunft und "Sitten". Denn sie verkörpern Kompetenzen, die weder Leidenschaften wecken noch der Leidenschaften bedürfen, und sie verkörpern Moral. Also jene Formen von Mäßigung und Reglementierungen, von Hemmungen und Einsicht in Grenzen, nach denen heute alle rufen.
Heraus kommt bei dieser Vermengung die paradoxe Form des väterlichen oder eben mütterlichen Beamten. Dieser affiziert nicht unser Ich-Ideal - jene Instanz einer idealisierten Identifizierung mit Autoritäten -, wie es der charismatische Herrscher macht, dem wir uns hingeben. Die psychische Disposition, die solche Figuren ansprechen, bestimmt sich eher vom Über-Ich her - von der moralischen Instanz innerhalb unseres psychischen Apparats also, mit ihren Normen und Wertvorstellungen. Sie funktionieren durch eine Übertragung der Kompetenzen auf den Versorgertypus mit Expertise. Ja, das ist langweilig, öd, vielleicht sogar medioker.
Das Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier mag zum Gähnen gewesen sein. Aber war es deswegen inadäquat? Vergessen wir nicht, dass es immer zugleich tatsächliche Vernunft, aber auch deren Inszenierung ist. Entspricht es damit nicht genau jener psychischen Disposition, die der Wähler gerade jetzt mitbringt angesichts einer Krise, die sich ebenso irreal anfühlt wie die sagenhaften Renditen früher und die dennoch derzeit unser aller Horizont ist?
Der Staat ist jetzt die Instanz, in die man wieder Vertrauen haben will. Wir werden am Sonntag sehen, ob es wirklich Verachtung ist, mit der die Wähler solchen charismafreien Politikern begegnen, wie die Zeit schreibt. Oder ob es nicht eine Kongruenz, ein Zusammenfallen des derzeitigen politischen Personals mit ebenjener psychischen Disposition des Wählers in der Krise gibt.
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