Debatte Piratenparteitag: Lippenstift und Lederstiefel
Die Piraten lehnen mehrheitlich den Begriff Feminismus ab – doch vertreten sie wichtige Forderungen zur Geschlechtergerechtigkeit. Das hat vielschichtige Gründe.
P iraten und Geschlechtergerechtigkeit – ein leidiges Thema. Leidig, weil jeder eine Meinung hat und weil piratige Eigenwahrnehmung und Zielsetzung diametral zur Außenwahrnehmung stehen. Eine radikal-feministische Programmatik – vielleicht etwas unachtsam auf dem Parteitag 2010 in Chemnitz verabschiedet – fordert die Abkehr von binären Geschlechterrollen und das Ende der Subventionen für die klassische heteronormativ-monogame Institution Ehe. Stattdessen steht die Idee der Verantwortungs- und Vertrauensgemeinschaften im Mittelpunkt der Überlegungen. Unabhängig von der sexuellen Identität und Orientierung. Generell soll das Geschlecht nicht mehr erfasst werden.
Ideen, die am Ende einer langen feministischen Auseinandersetzung mit Geschlecht und Rollenzwängen stehen. Ideen, denen die Piraten zustimmen. Doch irgendwie scheinen vielen Mitgliedern die praktischen Konsequenzen dieser Ziele unangenehm zu sein. Beschneiden sie nicht die Entfaltung des Einzelnen? Die Auseinandersetzungen mit geschlechtlich-sexuellen Identitäten gehen immer ans Eingemachte. Sie stellen unterlaufen gewohnte Vorstellungen und Handlungsweisen, sie hinterfragen das eigene Paarungsverhalten und tangieren Probleme, die man ungern ausschweifend diskutiert. Das ist seit jeher ein Problem des Feminismus. Alice Schwarzer legte sich mit ihrem Buch "Der kleine Unterschied" in deutschen Ehebetten in die Mitte. Diesen Schock haben die meisten bis heute nicht überwunden.
Warum die Piratenpartei in der Mehrzahl den Begriff Feminismus ablehnt, bei gleichzeitiger Befürwortung wesentlicher Forderungen, hat vielschichtige Gründe; biographische, sachliche und ideologische. Einig ist man sich nur in einem Punkt: Es geht um die Akzeptanz der Vielfalt von Menschen und ihren Entscheidungen. Dass ein Bekenntnis zur Dekonstruktion von Rollenbildern und der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Rollenzwänge nicht mehr virulent sind, nicht reicht, wird erst langsam begriffen.
Post-gender ist ein Ideal – die Realität fordert hingegen täglich einen Kampf gegen Sexismus und Genderstereotypisierung. Und so verwundert es nicht, dass sich Piraten teilweise zu Sexismus bekennen – als Flucht nach vorne, mit einem Augenzwinkern manchmal. Und manchmal mit Verunsicherung. "Wenn ich über Genderthemen stoße, fühle ich mich scheiße, weil ich so ein Sexist bin", verlautet es. Sich zu den Visionen einer Gesellschaft post-gender zu bekennen ist einfach – der tägliche Kampf für diese Gesellschaft umso schwerer.
Frauen und Gender
Der Bundesparteitag in Offenbach stand somit auch unter dem Stern der Debatte um Frauen und Gender. Denn: Frauen sind unterrepräsentiert in der Politik. Nicht nur bei den Piraten. Doch bei denen wird es besonders sichtbar – schmerzhaft sichtbar. Es zirkulierten Gerüchte, dass Medien keine Frauen filmten wollten, da es das mediale Bild der Partei verändern würde. Die Frauen wurden aufgefordert aufzustehen, als Beweis für ihre, oft negierte, Existenz – der Focus schrieb es seien zehn. Es waren natürlich mehr.
ist 26 Jahre alt und ihre Selbstbeschreibung lautet: "Politologin, Piratin, Post-Gender-Feministin, Politikergattin, Publizistin, Pro-Aktivistin, Prokrastiniererin, Prä-Politikerin, Privilegienmuschi und Provokateurin."
Der Kegelklub – ein informelles Forum für Fragen rund um Gender und Frauen in der Partei – verteilte Flyer mit Werbung für eine Umfrage, die sich den Themenkomplexen annehmen will und die Mitglieder einfach mal zu fragen gedenkt: Was ist für dich post-gender? Und: Findest du, dass die Partei ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in Basis, Mandat und Amt anstreben soll? Sehen wir überhaupt ein Problem?
Viele Mitglieder sehen ein Problem. Sie sehen ein Problem im Umgang, in der innerparteilichen Kultur und dem fehlenden Bewusstsein für (subtile) Ungerechtigkeiten und Rollenzwänge. Der Antrag auf quotierte Erstrednerliste wurde harsch mit "Wenn ich reden will, dann tue ich das!" kommentiert. Der Applaus war entlarvend. Der Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung scheiterte knapp. Doch die vielen grünen Karten geben ein differenziertes Bild. Vielleicht hatten auch noch nicht alle begriffen, dass es eben auch um die Einschränkung der Vielredner ging – fast ausschließlich Männer.
Feminismus für Männer denken
Es erscheint den Mitgliedern immer wieder schwer Maßnahmen zu akzeptieren, die eine Geschlechtergerechtigkeit herstellen könnten. Oftmals mit Begründungen, die eben Teil des Problems sind. Dominantes Redeverhalten, Alphatierchengehabe und Rücksichtslosigkeit, Ellenbogen. Klassische männliche Zuschreibungen, die sich durch Erziehung und Gesellschaft reproduzieren. Und deswegen liegt hier die Chance der Piratenpartei: Feminismus für Männer denken. Nicht, dass es das nicht gäbe – die Piratenpartei hat nur die Chance es in den Mainstream einzuspeisen, eine breite gesellschaftliche Diskussion gegen die Diskriminierung durch Rollenbilder anzustoßen.
Männlichkeit hinterfragen und andere Rollen für Männer ermöglichen, denken, umsetzen, ist der erste Schritt. Bilder von Frauen als Ernährern prägen, von Männern als Hausmänner. Dafür braucht es aber auch Konzepte einer ausgeglichenen Geschlechterrepräsentation. Konzepte für das Aufbrechen von Geschlechterrollen. Eine Abkehr von der monogamen und heteronormativ geprägten Vorstellung einer Familie. Weg von der Vorstellung, dass ein Familienvater seine Familie ernähren können muss. Dieses Argument wurde am Samstag in der Debatte über Sozialpolitik gebracht. Die Buhrufe zeigten, dass es nicht alle so sehen. Doch da ich weiß, dass emanzipatorische Ideen grundsätzlich mehrheitsfähig sind bei den Piraten, bleibe ich auch in einer Partei, die sich erst noch bewusst werden muss, dass sie ihre eigenen Ziele auch konsequent umsetzen will.
Equalismus, die piratige Vorstellung der Gleichwertigkeit aller Menschen, muss den Angriff auf die stereotype Weiblichkeit weiterführen, weiterdenken und auf alle Menschen ausbreiten und um einen Kampf gegen stereotype Männerbilder, ja generell Geschlechterbilder, die eine freie Entfaltung limitieren.
Und dann stört es auch nicht, dass Männer Lippenstift und Frauen schwere Lederstiefel tragen. Oder sich Piratin nennen.
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