Debatte Occupy-Bewegung: Bewegungsbeflügelnder Lernprozess
Der deutschen Occupy-Bewegung droht ein Rückschlag, der zugleich eine produktive Chance sein kann. Allein wird sie es aber nicht schaffen.
E s gibt unübersehbare Sturmzeichen: Wenn eine neue soziale Bewegung öffentlich verstummt, kaum Ziele und Arbeitsstrukturen entwickelt, sich wenig um eine strategische Orientierung müht und sich schwächelnd für so stark hält, dass es keine Bündnispartner bräuchte – dann ist das sogar mehr als ein Sturmzeichen. Dann brennt die Bewegungshütte!
Ein sichtbarer Ausdruck dessen ist das verstockte Unverhältnis des globalisierungskritischen Netzwerks Attac und der Occupy-Bewegung. Sie wollen irgendwie zusammengehören, aber sie sind sich in der Denke so fremd, dass wenig Gemeinsames zustande kommt. Distanz und Misstrauen dominieren. Nur wenige Attacies haben sich in Berlin und Frankfurt über mehrere Tage in die Klärungs- und Arbeitsprozesse eingebracht. Attac steht irgendwie daneben. Es dämmert zögerlich und ist möglicherweise schmerzlich: Die Attac-Hütte brennt selbst.
Wer vor dem Reichstag erlebt hat, wie eine klassische Ankündigung von Attac, im November das Regierungsviertel umzingeln zu wollen, von den Occupy-Bewegten kühl und undiskutiert aufgenommen worden ist, der hat schnell begreifen können, welche unterschiedlichen Bewegungskulturen versammelt sind. Einerseits die junge, offene Suchbewegung mit aller Ängstlichkeit der Festlegung, die sich "von unten" alleine entwickeln will und andererseits Attac, das Bewegungsversuche in Expertisen, Tribunalen und Bankbesetzungen einbringt.
Dass Gesine Lötzsch – Ko-Vorsitzende der Partei Die Linke – sich vom Erfurter Parteitag aus buchstäblich an den Hals der neuen Bewegung wirft, wird als lächerlicher Vereinnahmungsversuch gewertet. Die Linke wisse überhaupt nicht, was eine soziale Bewegung sei, lautete der Kommentar in einer Occupy-Arbeitsgruppe in Frankfurt.
, 69, war von 1979 bis 2007 Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin und ist auch nach seiner Emeritierung politisch noch sehr aktiv.
Ein Lächerlichkeitsverfall ist möglich
Die Occupy-Bewegung steht auf der Kippe. Die kalten Nächte vor der EZB und dem Reichstag, das rasch erlahmende Interesse der Menschen, ja die fehlende Attraktivität der Bewegung für gemischte Protestpotentiale, führen zu der plausiblen Prognose, dass diese doch sehr selbstbezogene Bewegung an den nächsten Demo-Samstagen erlahmt. Ein Lächerlichkeitsverfall ist sogar möglich. Die Akteurinnen und Akteure werden bald unsicher werden, interner Streit bei tausend Politikverständnissen inclusive. Ein Rückschlag für die Bewegung ist sehr wahrscheinlich.
Das aber kann auch eine produktive Chance werden – die Vorbilder New York und Madrid sind einladend. Der Lernprozess wird entscheidend sein: Eine so verfasste Bewegung in Deutschland wird es alleine nicht stemmen, sie kann es alleine nicht auf die Reihe bekommen. Sie bedarf zwar nicht der Unterstützung von gesellschaftlichen Großorganisationen und Parteien, aber doch von ganz vielen Einzelpersonen unterschiedlicher Protestmilieus, die mit Erfahrung, Kompetenz und bitteschön ein bisschen mehr Kreativität ein Bewegungsklima der Toleranz von unterschiedlichen Radikalitäten schaffen können.
Eine Flutung der Bewegung durch neue Protest- und Kreativitätspotentiale ist das Gebot der Stunde: Mit guten Argumenten menschenfischerisch die Bewegung und den berechtigten Zorn der 80 Prozent der Bevölkerung zusammenzubringen. Es geht nicht um "entern" oder eine "Übernahme", sondern um einen gesamtgesellschaftlichen und bewegungsbeflügelnden Lernprozess. Dass die Betroffenen aufstehen, sich befreit fühlen und Politik und Bankenmacht Zug um Zug mehr unter Druck bringen.
Dazu gehört auch eine Debatte über realistische Ziele: die Zerlegung, Funktionstrennung, Vergesellschaftung von Banken, die Festlegung eines "Giftschranks" für bestimmte Finanzprodukte, die Umstrukturierung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu wirklichen "Volksbanken", in denen Demokratie realisiert werden kann.
Es muss den Herrschenden weh tun
Und: Die Debatte über Protestformen und Aktionen des zivilen Ungehorsams sollten vorangetrieben werden. Demonstrationen sind wichtig, papierne Forderungen notwendig – aber bitte in Kombination mit zivilem Ungehorsam in Form von gewaltfreien "Banküberfällen" und Bankbesetzungen. Es muss den Herrschenden weh tun – sonst ändert sich wenig oder gar nichts.
Bisher hat die Occupy-Bewegung eine nur sehr einäugige Perspektive und bisher noch geschlossene Augen für ihre eigenen strategischen Entwicklungsmöglichkeiten. Die Öffnung der Bewegung und das sensible wechselseitige Einlassen auf unterschiedliche Protestkulturen ist der Schlüssel für eine soziale Bewegung, die ihren Namen verdient.
Das Lob der Herrschenden für die Bewegung ist der Ausdruck von Unsicherheit gegenüber einer unberechenbaren Bewegung. Schüren wir diese Unsicherheit!
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