Debatte Nordkoreas Machthaber: Der Lieblingsfeind im Norden
Kim Jong Un handelt keinesfalls einfach unberechenbar. Sanktionen sind der falsche Weg, um in dem Land einen Wandel zu erreichen.
ber Nordkorea zu schreiben fühlt sich manchmal an, wie blindlings durch ein Minenfeld zu waten. Wer das gängige Schwarz-Weiß-Denken mit Grautönen anreichert, wird im öffentlichen Diskurs schnell für vogelfrei erklärt. Dabei verhindert genau jenes vereinfachende Feindbild, den Koreakonflikt in seiner ganzen Komplexität zu verstehen. Es wird Zeit, mit ein paar Missverständnissen aufzuräumen.
Diktator Kim Jong Un mag vieles sein, aber „irrational“ oder „verrückt“ ganz bestimmt nicht. Tatsächlich folgt das nordkoreanische Regime seit Jahren einer konsistenten wie fast schon vorhersehbaren Logik. Dass sich viele der heimischen Leitartikler dennoch nach jedem militärischen Muskelspiel aufs Neue „überrascht“ zeigen, offenbart vor allem, wie oberflächlich sich die Öffentlichkeit mit Nordkorea auseinandersetzt.
Das mit Abstand wichtigste Interesse des Regimes ist sein Selbsterhaltungstrieb. Sicherheitsfragen setzt Pjöngjang stets an erste Stelle, noch weit vor das materielle Wohl seiner Bevölkerung. Außenpolitisch dient die Atombombe für Kim Jong Un daher vor allem als Lebensversicherung. Die Paranoia des Diktators ist keinesfalls abwegig: Immer wieder hat Washington versucht, auch unter dem Deckmantel humanitärer Entwicklungshilfe Spione ins Land zu schleusen.
Im Nachbarland Südkorea fordert die Präsidentin in öffentlichen Ansprachen bereits einen „Regimewechsel“, Abgeordnete der konservativen Regierungspartei werben offen für Bombenangriffe. Verständlicherweise möchte Kim Jong Un weder wie Saddam Hussein noch wie Gaddafi enden.
Signalwirkung nach innen
Oft wird allerdings zu wenig beachtet, dass die nordkoreanischen Raketentests eine mindestens ebenso wichtige Signalwirkung nach innen haben: Sie rechtfertigen die Herrschaft des Regimes vor seinem Volk. Seitdem das staatliche Verteilungssystem in den neunziger Jahren mit dem Fall der Sowjetunion zusammengebrochen ist, sorgen die Nordkoreaner auf den Schwarzmärkten des Landes eigenständig für ihr Überleben.
Während der Übergangsjahre, als Mangelwirtschaft und Dürreperioden zur bislang katastrophalsten Hungersnot in der Geschichte des Landes geführt haben, sind bis zu einer halben Million Nordkoreaner auf grausamste Art gestorben. Dieser traumatische Vertrauensverlust in den Staat führte nicht zuletzt dazu, dass das Regime seine Legitimation vor allem aus seiner militärischen Schutzfunktion bezieht.
Die für Außenstehende wohl unbequemste Wahrheit über Nordkorea ist, dass das Volk noch immer weitgehend hinter seinem Regime steht. Laut einer aktuellen Umfrage unter Nordkoreanern, die erst vor Kurzem nach Südkorea geflohen sind, behaupten das immerhin rund zwei Drittel.
Tatsächlich beschränken sich in den mehr als 70 Jahren seit Staatsgründung die einzig bekannten Unruhen auf Ausschreitungen bei Fußballspielen oder Marktstreitigkeiten. Das lässt sich nicht ausschließlich mit der totalitären Überwachung erklären, die übrigens in ihrer technischen Dimension dem Stasi-Apparat der DDR weit unterlegen ist.
Große Hoffnungen
Tatsächlich hat die Bevölkerung große Hoffnungen an Kim Jong Uns Machtantritt geknüpft. Auch wenn das Regime die ideologischen Zügel weiter angezogen hat, hat es andererseits mit seinen Marktreformen der letzten Jahre einen wirtschaftlichen Weg eingeschlagen, der in Ansätzen an Deng Xiaoping, den großen chinesischen Reformer, erinnert: Bauern dürfen mittlerweile Teile ihrer Ernten auf dem freien Markt verkaufen, Leiter von Staatsbetrieben die Löhne ihrer Angestellten festsetzen. Auch die zahlreichen Schwarzmärkte des Landes werden von den Behörden weitgehend toleriert.
Laut Schätzungen des Nordkoreaexperten Andrei Lankov macht der private Sektor in Nordkorea bereits zwischen 30 und 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Es wird erwartet, dass Kim Jong Un diesen marktwirtschaftlichen Kurs Anfang Mai während des siebten Parteikongresses, des ersten seit 1980, auch ganz offiziell anerkennen wird.
Jahrgang 1986, lebt in Seoul und berichtet als Korrespondent aus Korea. Im August 2015 erschien bei Rowohlt sein mit Choi Yeong Ok zusammen verfasstes Buch über Nordkorea: „So etwas wie Glück. Acht Jahre auf der Flucht – mein langer Weg aus Nordkorea in die Freiheit“.
Sanktionen und Repressalien, wie sie derzeit unter Federführung von Washington weiter forciert werden, führen vor allem dazu, den Status quo weiter zu zementieren. Je konfrontativer das westliche Ausland Nordkorea begegnet, desto effektiver können die reaktionären Parteikader ihre Opferkarte ausspielen – und für die Misere des Landes alleine das „imperialistische Ausland“ verantwortlich machen. Es ist sicher kein Zufall, dass Nordkorea ausgerechnet während der Amtszeit George W. Bushs zur Atommacht aufgestiegen ist.
Propaganda mit Schokoriegeln
Nur gegenseitiger Austausch und wirtschaftliche Annäherung werden nachhaltig für Frieden und Stabilität auf der koreanischen Halbinsel sorgen. Die bislang bedeutsamste Kooperation war zweifelsfrei die Sonderwirtschaftszone Kaesong, die während der „Sonnenscheinpolitik“ um die Jahrtausendwende vereinbart wurde: Über 50.000 Nordkoreaner arbeiteten entlang der Demarkationslinie in 124 südkoreanischen Fabriken. Der Industriestandort wurde ganz bewusst auf einen der wenigen möglichen Invasionskorridore der ansonsten bergigen Grenze gelegt.
Kaesong diente nicht nur als Frühwarnsystem für innerkoreanische Spannungen, sondern auch als einmaliges Propagandawerkzeug: Die hochmodernen Fabriken, das nahrhafte Essen, ja selbst die täglich verteilten Schokoriegel zeigten den nordkoreanischen Arbeitern auf ganz banale Weise die Überlegenheit des westlichen Systems. Vielleicht hat Kim Jong Il deshalb laut Angaben des Fachmediums Daily NK seinem Sohn noch am Sterbebett befohlen, die Sonderwirtschaftszone bei nächstbester Gelegenheit zu schließen.
Nun hat dies ausgerechnet die südkoreanische Präsidentin Park Geun-hye erledigt – obwohl sie erst 2013 in einem Vertrag eingefordert hatte, den Betrieb von Kaesong unter keinen Umständen von innerkoreanischen Spannungen abhängig zu machen. Mit diesem einschneidenden Schritt hat sich Park endgültig von ihrer symbolischen „Trustpolitik“ abgewendet. Dabei sollte sie von der namensgebenden „Ostpolitik“ doch eins gelernt haben: Wandel entsteht nicht über Nacht.
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