Debatte Nordafrika: Domino am Mittelmeer?
Im ganzen Maghreb gab es in den letzten Wochen Proteste. Aber ein Umsturz wie in Tunesien ist in den Nachbarländern nicht zu erwarten.
S eit der tunesische Diktator Ben Ali Mitte Januar ins Exil flüchtete, wird auch in Ägypten, dem Jemen, in Jordanien und sogar im Sudan für mehr Demokratie protestiert. Nur in den Maghreb-Ländern Algerien, Marokko und Libyen ist es bislang relativ ruhig geblieben. Dabei existieren dort ähnliche Probleme, die im Nachbarstaat Tunesien zur Revolte führten: eine hohe Arbeitslosigkeit, eine sehr junge Bevölkerung ohne Perspektive, soziale Ungerechtigkeit, Korruption sowie Unterdrückung und fehlende Meinungsfreiheit.
Zwar kam es auch in Libyen und Algerien schon zu Protesten. Doch in diesen beiden nominell "sozialistischen" Ländern sitzen die Machthaber bislang fest im Sattel. Beide Länder verfügen - anders als etwa Tunesien - über große Öl- und Gasvorkommen, was ihren Regimes relative finanzielle Stabilität und Machtbasis verleiht. Und die Religion spielt in diesen beiden Staaten, ähnlich wie in Marokko, eine größere, traditionelle Rolle, als im säkularen Tunesien.
Dessen erster Präsident Habib Bourghiba ließ schon 1956 die Gleichstellung der Geschlechter per Gesetz festschreiben und sein Nachfolger Ben Ali verfolgte alle islamistischen Gruppen mit großer Härte, der Exdiktator lancierte sogar Kampagnen gegen das Kopftuch oder islamische Barttracht. Islamisten spielten bei den Protesten gegen Ben Alis Regime folglich keine sichtbare Rolle.
51, ist Journalist und lebt mit seiner Familie in Tanger, Marokko. Von ihm stammt: "Das Lexikon der Islam-Irrtümer. Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse von Al-Quaida bis Zeitehe" (Eichborn-Verlag, 2008).
Algeriens Bürgerkriegstrauma
Auch in Algerien protestierten Jugendliche schon vor Wochen gewaltsam gegen die Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Doch als die Regierung diese zurücknahm, blieb es erst einmal wieder still auf den Straßen von Algier und Oran. Vom Öl- und Gasreichtum des Landes, das 95 Prozent des Exportvolumens ausmacht, bezahlt die Regierung die Subventionen der Lebensmittel. Ansonsten profitiert die Bevölkerung nur wenig von den fossilen Ressourcen Algeriens.
Als Präsident steht Abdelasis Bouteflika seit 1999 an der Spitze eines durch und durch korrupten Militärstaats. Die Armee putschte sich 1991 an die Macht, um einem Wahlsieg der islamistischen "Heilsfront" zuvorzukommen, und löste damit auf Jahre einen blutigen Bürgerkrieg aus. Nach dem Verbot der "Heilsfront" gingen ihre Mitglieder in den Untergrund und bekämpften die Militärdiktatur: ein Kampf, der in den Neunzigerjahren mehr als 120.000 Menschen das Leben kostete.
Es ist deshalb fraglich, ob die desillusionierte Jugend Algeriens zu einer ähnlich breiten gesellschaftlichen Mobilisierung wie in Tunesien in der Lage ist. Dazu bräuchte es die Unterstützung konservativer, gar islamistischer Kreise. Doch dazu sitzt das Trauma der Gräueltaten des algerischen Bürgerkriegs wohl zu tief. Auch wollen die meisten jungen Leute von den Islamisten nichts wissen. Seit Jahren bestimmen religiöse Verhaltensregeln den Alltag - ein Korsett, das die Jugend endlich abstreifen möchte.
Gaddafi hat Grund zur Sorge
In Libyen kam es im Januar zu Unruhen, als neue Wohnanlagen für Ausländer besetzt und zerstört wurden. Doch Staatschef Muammar al-Gaddafi kam umgehend für den Schaden der Baufirma aus Südkorea auf - und gab zugleich 24 Milliarden Dollar für den Wohnungsbau für die libysche Bevölkerung frei. Gaddafi regiert den riesigen Wüstenstaat seit 41 Jahren mit harter Hand. Auch er hat Grund zur Sorge, bei über 30 Prozent Arbeitslosigkeit und einer Bevölkerung, deren Durchschnittsalter 24 Jahre beträgt.
Erst kürzlich offenbarten die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen, welchen dekadenten Lebensstil einige seiner Söhne pflegen - in Tunesien hatten ähnliche Enthüllungen über Ben Alis Familie den Wunsch nach Veränderungen verstärkt. Doch noch ist Gaddafi der unumschränkte Herrscher. Organisationen der Zivilgesellschaft befinden sich unter staatlicher Kontrolle, auf dem Land dominieren vielerorts noch alte Stammesstrukturen. Zudem kann er sich auf seine Volkskomitees stützen, die bis ins letzte libysche Dorf reichen und ihm als eine Art Frühwarnsystem für möglichen Unmut dienen.
Ruhig geblieben ist es bisher auch in Marokko. Unter Hassan II. war das Königreich eine Diktatur, in der Regimegegner verfolgt und gefoltert wurden. Doch nach dem Tod des autokratischen Monarchen alter Schule, gibt sich sein Sohn und Nachfolger Mohammed VI. einen wesentlich demokratischeren Anstrich. Er lässt Presse- und Meinungsfreiheit zu, nur Kritik am Königshaus, der Armee und dem Geheimdienst ist nach wie vor streng untersagt. Es gibt ein halbwegs pluralistisches Parlament, in dem sogar eine islamistische Partei sitzt.
Marokkos vorsichtige Öffnung
Außerdem befindet sich Marokko im ökonomischen Umbruch. In Tanger wurde 2007 ein neuer Container-Hafen mit riesigem Industriegebiet eröffnet, in Rabat und Casablanca baut man neue IT-Zentren. Die Armut ging in Marokko in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent zurück, ergab jüngst eine Studie des Carnegie Middle East Center in Beirut - eine absolute Ausnahme unter den arabischen Staaten.
Doch die sozialen Unterschiede sind immer noch gravierend, Proteste nicht unwahrscheinlich. Arbeitsplätze werden meist unter der Hand über Beziehungen verteilt. Im letzten Jahr blockierten erzürnte Jugendliche deshalb mehrere Tage lang den Hafen von Sidi Ifni, unweit des bekannten Ferienorts Agadir.
Doch zum Sturz Mohammeds VI. wird es nicht kommen. Der 47-jährige Monarch ist zugleich oberster religiöser Führer des Landes. Und einen König, der sich auf ein traditionelles Stammes- und Klansystem stützt, stürzt man nicht so leicht wie einen Diktator. Im Notfall könnte der König einfach - wie König Abdullah in Jordanien - eine neue Regierung berufen.
Für Europa ändert sich durch den Umbruch im Tunesien daher vorerst wenig. Bald dürfte es für Frankreich und Deutschland, die beiden wichtigsten Handelspartner Tunesiens, wieder business as usual heißen. Und die EU kann wieder ihre jährlichen Finanzhilfen in Millionenhöhe überweisen, ohne wegen der Menschenrechtslage rot zu werden. An der Flüchtlings- und Migrationspolitik dürfte sich wenig ändern - dafür bezahlt die EU zu gut. Der Maghreb hält die Grenzen dicht. Und von den wenigen, die es trotzdem von Algerien oder Libyen aufs Meer schaffen, sterben zwei Drittel auf der Überfahrt.
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