Debatte Nahost: Wo bleiben die Rosinenbomber?
Israel muss endlich klargemacht werden, dass es rechtlich und moralisch auch für die besetzten Gebiete verantwortlich ist. Ohne starken internationalen Druck geht das nicht.
I n Annapolis wurde der israelisch-palästinensische Friedensprozess wieder in Gang gebracht, die Geberkonferenz in Paris hat viel Geld zur Unterstützung dieses Prozesses zusammengebracht. Die Krise im Gazastreifen wurde nur am Rande erwähnt. Die Isolation des Gazastreifens - bei gleichzeitiger Aufpäppelung gewisser Teile des Westjordanlands - scheint zum unumstrittenen Prinzip der internationalen Gemeinschaft zu werden.
Das ist ein Fehler. Denn die Lage in Gaza mag verfahren sein, und mit der dort herrschenden Hamas möchte keiner reden - schließlich sollten gerade die Friedenswilligen gestärkt werden. Doch die Weltgemeinschaft sollte beachten: Gaza ist kein Sonderfall. Es ist Modell und Versuchsfeld für ein Enklavensystem, das auch im Westjordanland - und damit für ganz Palästina - gelten soll. Israel hat sich vor eineinhalb Jahren aus dem Gazastreifen zurückgezogen, es kontrolliert aber nach wie vor alle Grenzen - zu Land, zu Wasser und in der Luft. Durch die jetzt schon ein halbes Jahr währende Komplettabriegelung beschwört es bewusst eine humanitäre Krise herauf.
Die Wirtschaft Gazas funktionierte in den vierzig Jahren der Besatzung wie eine Kolonialwirtschaft: Sie lieferte billige Arbeitskräfte an die israelische Metropole, war komplett von ihr abhängig und erfuhr kaum Entwicklung. Diese Wirtschaft muss jetzt mit einer Blockade zurechtkommen, die um einiges strenger ist als die von Westberlin in den Jahren 1948/49: Auf einer etwa gleich großen Fläche werden fast so viele Menschen eingesperrt. Nur: Hier gibt es weder "Rosinenbomber" noch eine Transitstrecke. Der Einschluss ist total; statt mehrerer Tausend Materialien dürfen nur noch zwölf eingeführt werden.
Die Folgen sind dramatisch: Medizinische Operationsräume können nicht mehr steril gehalten und müssen nacheinander geschlossen werden, die Benzinknappheit verhindert den Einsatz von Ambulanzen, Dialysemaschinen fallen aus. Auch andere Voraussetzungen für ein gesundes, menschenwürdiges Leben wie sauberes Wasser, ausgeglichene Nahrung und Hygiene sind nicht mehr garantiert. Eine Drosselung der Stromzufuhr soll der nächste Schritt sein: Damit würden die Generatoren für die Wasserpumpen häufiger ausfallen, Abwässer die Straßen fluten und die Wasserreservoirs kontaminieren. Schon jetzt ist der Wasserpreis um 500 Prozent gestiegen, so dass die Ärmsten zu unreinem Wasser greifen müssen. Durchschnittlich müssen Palästinenser mit gerade mal einem Euro am Tag auskommen.
Die desolate Situation macht eine Ausreise für immer mehr medizinische Behandlungen notwendig. Doch Israel verhindert die Ausreise vieler Patienten; als direkte Folge sind innerhalb kurzer Zeit 44 Herz- oder Krebskranke gestorben. Reisegenehmigungen werden nämlich nur dann erteilt, wenn die Maßnahme "lebensrettend" ist.
Was "lebensrettend" bedeutet, veranschaulichen folgende Fälle: Mehreren jungen Männern, denen die Hamas (!) ins Bein geschossen hatte, und einem Patienten mit einer Augenkrankheit wurde die Ausreise verweigert, da nicht ihr Leben in Gefahr war, sondern nur ihre "Lebensqualität". Behörden wie das Oberste Gericht nahmen billigend in Kauf, dass dies zwangläufig zu Beinamputationen bzw. zur Erblindung dieser Patienten führte. Dieses inhumane Verhalten stärkt nicht nur extremistische Kräfte, sondern führt auch zur Zersetzung der palästinensischen Zivilgesellschaft.
Im Westjordanland soll alles anders sein: Hier verspricht Israels Premier Olmert einen zügigen Ausbau des künftigen Palästinenserstaats. Doch die Realitäten vor Ort sind eindeutig: Auch im Westjordanland werden die künftigen Enklaven immer sichtbarer. Drei dichtbevölkerte Gebiete werden durch neue Siedlungsblöcke gerade jetzt voneinander getrennt. Durch halb legale Winkelzüge, administrative Hürden und schiere Willkür und Gewalt werden die Palästinenser aus anderen Gebieten, die Israel vereinnahmen möchte, verdrängt. Im Jordantal kann man beobachten, wie Israel einen breiten "Sicherheitsstreifen" entvölkert, der eine gemeinsame Grenze zwischen den drei Enklaven und Jordanien verhindern soll.
Die Idee eines Enklavensystems entstand, weil es israelischen Politikern dämmerte, dass die Besatzung angesichts internationalen Drucks und des absehbaren palästinensischen Bevölkerungswachstums auf Dauer nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Letzteres wird im israelischen Diskurs als "demografische Bombe" bezeichnet. Das Enklavensystem soll Israel von diesem Dilemma befreien: Israel entzieht sich seiner im internationalen Recht verankerten Verantwortung für die Bevölkerung, die unter seiner Besatzung steht, behält jedoch die völlige Kontrolle über die Palästinenser und verhindert jedwede geografische, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kohäsion. In diesem Zusammenhang verfolgt Israel einen "Gaza zuerst"-Ansatz. Im Gazastreifen konnte es experimentieren und feststellen, wie weit es gehen kann. Und tatsächlich: Es verfügt Kollektivstrafen über eine Zivilbevölkerung mit tödlichen Folgen, bricht offen internationales Recht - und die internationale Gemeinschaft protestiert kaum.
Israel geht es gut, die Wirtschaft blüht, die Besatzungsvergessenheit im wirtschaftlich florierenden Tel Aviv ist vollkommen. Israelis leiden nicht unter einer Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, im Gegenteil: Israel erhält immer besseren Zugang zu den Märkten der Welt und wird in immer weitere Programme der Europäischen Union integriert. Bei aller Freude über das internationale Engagement im Nahostkonflikt sollte zweierlei bedacht werden: Ohne nennenswerten Druck der Weltgemeinschaft wird Israel nicht von seiner Politik ablassen. Es muss ihm klargemacht werden, dass derjenige, der ein Gebiet kontrolliert, auch die Verantwortung für die dort lebenden Menschen trägt. Außerdem muss Israel auch dazu gebracht werden, sich endlich für eine der beiden Alternativen zu entscheiden, die mit internationalem Recht übereinstimmen: einer Zweistaatenlösung, mit zwei lebensfähigen Staaten nebeneinander. Oder einer Einstaatenlösung, bei der alle Bürger, also Israelis wie Palästinenser, dieselben Rechte besitzen. Ein Enklavensystem, wie es Israel vorschwebt, darf nicht Realität bleiben, da es mit internationalem Recht nicht vereinbar ist und lediglich eine raffinierte Form von Besatzungsregime darstellt.
Und: Hilfe ist nicht neutral. Die finanzielle Hilfe der internationalen Gemeinschaft ist notwendig, um die palästinensische Gesellschaft zu unterstützen und zu stabilisieren. Doch ohne massiven Druck auf Israel wird sie auch zur Stabilisierung des Enklavensystems beitragen, und Israel aus seiner nicht zuletzt finanziellen Verantwortung für die besetzen Gebiete entlassen.
Vielleicht sollte auch die Weltgemeinschaft deshalb zu einem Gaza-zuerst-Ansatz greifen, und darauf bestehen, dass den Menschen in Gaza zunächst das Recht auf Leben und Gesundheit zusteht.
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