Debatte Münteferings Rücktritt: Keine rosige Bilanz
Franz Münteferings Abschied bedeutet keine Zäsur für die große Koalition. Denn auch künftig werden die Agenda-2010-Sozialdemokraten die Politik der SPD bestimmen.
M an hat in den letzten Wochen viel darüber gerätselt: Was mochte Vizekanzler Müntefering eigentlich bewogen haben, als er über Wochen den Kontrahenten zum sozialdemokratischen Parteichef Beck gab? War es Prinzipienfestigkeit, Altersstarrsinn - oder am Ende gar ein großartiger loyaler Dienst an seiner Partei.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Im Frühjahr hat er mit Tim Spier das Buch "Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?" beim VS Verlag (26,90 Euro) herausgegeben.
Denn: Hätte Müntefering einen Plan ausgeheckt, um seinen schwächelnden Parteichef zu stützen, dann hätte er wohl so gehandelt, wie wir es jüngst erlebten. Beck war im Laufe des Jahres mehr und mehr zum Gespött der Öffentlichkeit geworden. Die Sozialdemokratie insgesamt wirkte apathisch, ohne Ausstrahlung auf Bürger und Wähler.
Nichts aber elektrisiert Menschen so sehr wie die Zweikampfsituation. Daher hieß es plötzlich: Beck gegen Müntefering. Das in der Mediengesellschaft so elementare Gut "Aufmerksamkeit" konzentrierte sich mit einem Mal überraschend auf die SPD. Kein Mensch sprach mehr über die Lafontainsche Linke, alle dafür über den "Machtkampf" in der Sozialdemokratie. Und das Volk liebt Gewinner. So durfte der schon angeschlagene rheinland-pfälzische Ministerpräsident nun Machtworte sprechen, konnte die Hamburger Parteitagsdelegierten auf seine Seite ziehen. Kurzum: Wenn hinter all dem Treiben Münteferings die heimliche Absicht gestanden haben mochte, die SPD zu stabilisieren, dann hätte der alte Fuchs genau die richtigen Register gezogen.
Aber ob es sich wirklich so mit den Motiven Münteferings verhielt? Niemand weiß es wirklich. Und er wird es so rasch auch keinem sagen. Wahrscheinlich aber überschätzt man die Selbstlosigkeit Münteferings, seinen vermeintlichen Mangel an Eitelkeit. Müntefering hat stets die Aura der Undurchsichtigkeit genossen. Aber war er wirklich der große Stratege, der alles vom Ende her dachte, der virtuos seine Gegner in Zwickmühlen manövrierte? War er nur der getreue Eckhardt seiner Partei, dem es allein um "die Sache" ging?
Denn wer wüsste schon zu sagen, was die Sache des Franz Müntefering eigentlich war? Welche Vorstellung von Ökologie trieb ihn? Wie sahen seine außenpolitischen Maßstäbe aus? Wie wichtig waren ihm selbstbewusste Bürger, beteiligungsfreudige Arbeitnehmer - in Zeiten vor Hartz IV?
Präzise Vorstellungen hat er darüber nicht entwickelt. Er war der Mann der vielen Sozialdemokraten, die begabter waren als er, gleichermaßen treu auf Zeit diente: Vogel, Scharping, Lafontaine, Rau, Schröder. Nur Kurt Beck wollte er sich nicht mehr fügen - vermutlich weil er dessen Begabung nicht sonderlich hoch einschätzte.
Vielen gilt Müntefering als der letzte große Mann der klassischen Sozialdemokratie. Dabei: So rosig ist seine Bilanz keineswegs. Als Müntefering den Parteivorsitz in Nordrhein-Westfalen abgab, da ließ er in dieser langjährig roten Hochburg ein ziemliches Trümmerfeld zurück, schuf so den Boden für den christdemokratischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers. In Münteferings Zeit als Bundesvorsitzender der SPD fielen dramatische Mitgliederverluste und verheerende Wahlniederlagen in den Bundesländern. Als Generalsekretär seiner Partei stieß er im Jahr 2000 ehrgeizige Organisationsreformen an - und brachte doch nichts davon erfolgreich zu Ende. Er wollte damals eine Partei, die sich wieder neu und stärker mit der Gesellschaft vernetzte. Aber am Ende war die SPD in den Lebenswelten der Republik zu einem Fremdkörper geworden wie wohl zuvor noch nie in ihrer langen Geschichte.
Für Müntefering bedeutete Politik immer: "Einsicht in die Notwendigkeit". Mit dieser Formel ließen sich Sozialdemokraten in ihrer Geschichte regelmäßig disziplinieren. Auch die Zustimmung zur Agenda 2010 begründete Franz Müntefering so. Man hatte sich den ökonomischen "Zwängen" unterzuordnen, dem Druck der "Globalisierung" zu fügen. Eine normative Neuentscheidung für mehr Individualität, Eigenverantwortung, Selbstinitiative bedeutete das alles nicht.
Aber eben deshalb stecken die Sozialdemokraten der Müntefering-Prägung nun in Schwierigkeiten. Zwischen 2003 und 2005, in der manifesten Krise der Ökonomie, war die Zwangskulisse wirtschaftlicher Notwendigkeiten durchaus wirkmächtig aufzubauen. Seit dem Frühjahr 2007 jedoch ist Optimismus, Aufschwung, Wachstum angesagt; die Einnahmesituation des Staats hat sich erheblich verbessert. Nun also zwingt einen die Einsicht in die Notwendigkeit nicht mehr eindeutig in Richtung strenger Sparpolitik. Und deswegen tun sich die Fußtruppen der SPD so schwer mit der Gouvernementalität der großen Koalition. Denn die revidiert nicht das, was zuvor an Entscheidungen doch lediglich unter dem Zwang widriger ökonomischer Verhältnisse getroffen werden musste.
Dennoch: Was Müntefering auszeichnete, war sein unsentimentales, kühles Verhältnis zur politischen Macht. Darin war er Bruder im Geiste mit Gerhard Schröder. Und daher waren die beiden im deutschen Bürgertum so gefürchtet. Zuvor hatten Sozialdemokraten meist Scheu vor der Macht, agierten unsicher, wirkten den harten Konservativen von Adenauer bis Kohl stets chronisch unterlegen. Schröder und Müntefering markierten hier eine Zäsur, sie gingen im Kampf um die Macht stets verwegen vor, kannten wenig Skrupel, legten listig den Gegnern Fallstricke, ließen sich von einem hochentwickelten Gefahreninstinkt leiten. Beide kamen weit von unten und wollten sich von den Privilegierten durch Geburt nicht wieder zurückdrängen lassen.
Ob diese kalte Entschlossenheit bei der nun nachrückenden SPD-Generation noch zu finden ist, darf man getrost bezweifeln. Etwa bei Olaf Scholz. Einige Kommentatoren haben den designierten Müntefering-Nachfolger schon vorschnell dem Lager des "Traditionalisten Beck" zugeteilt. Aber das alles sind Zuordnungen ohne Sinn und Substanz. Der pfälzische Ministerpräsident war nie ein Gralshüter der Traditionalität. Und Olaf Scholz hat in seiner Zeit als Generalsekretär die Abkehr vom "demokratischen Sozialismus" inhaltlich und semantisch besonders massiv betrieben.
Vieles von dem, was man programmatisch mit Matthias Platzeck verbindet - den sozialinvestiven, vorsorgenden Sozialstaat - entstand bereits unter dem Parteigeneral Scholz, der seinerzeit nach einer Sinngebung für die Sanierungspolitik Schröders feilte. Erst der neuerdings als Modernisierer gefeierte Müntefering brach diese Absetzaktionen von den Traditionen als neuer Vorsitzender der SPD 2004 ab und versuchte die Programmdiskussion wieder stärker in ältere Kontinuitäten einzubetten.
Seinerzeit hat sich Scholz eine blutige Nase geholt. Das hat seither seine Erneuerungsverve gebremst. Aber er ist ein Agenda-Sozialdemokrat, wie Steinmeier, Heil, Struck, Steinbrück - und auch Beck. Der Rücktritt Münteferings markiert wohl ein weiteres Stück Generationswechsel, aber ein Abschied von der Schröder-Politik bedeutet er nicht.
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