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Debatte LibyenMilizen, Öl und Liberale

Ein Jahr nach Gaddafis Tod geht es dem nordafrikanischen Land besser, als viele glauben. Nur an den staatlichen Strukturen fehlt es immer noch.

Ein Jahr nach Gaddafis Tod feiern die Libyer ihre neuen Freiheiten. Bild: dapd

E twas über ein Jahr ist er nun her, der Tyrannenmord an Muammar al-Gaddafi, nachdem die Aufständischen am 20. Oktober 2011 den libyschen Diktator in einem Kanalisationsrohr aufgegriffen hatten. Die wackligen Videobilder seiner letzten Minuten, in denen Gaddafi angstvoll Spießruten läuft, gingen um die Welt. Inzwischen wissen wir auch, dass die Milizen aus Misrata damals über 60 seiner Begleiter gefangen genommen und exekutiert haben.

Es war ein brutaler Schlusspunkt der ebenso brutalen 42-jährigen Regierungszeit Gaddafis. Aber es war auch der Anfangspunkt für den Aufbau eines neuen Libyens. Es gibt kein Land des arabischen Wandels, in der das entstandene politische und verwaltungstechnische Vakuum so groß war wie in Libyen. Und dennoch: Das Nach-Gaddafi-Libyen ist besser als sein Ruf – und wesentlich komplexer, als es US-Wahldebatten über den Anschlag auf das US-Konsulat in Bengasi und zahlreiche Berichte über schwer bewaffnete Milizen, die ihr Unwesen treiben, vermuten lassen.

Gaddafis Erbe war ein Land ohne funktionierende staatliche Institutionen und mit einer aufgelösten Armee und Polizei. Ging es in Tunis und Kairo nach dem Sturz der Diktatoren darum, Staat und Regime voneinander zu trennen, lautete die Devise in Tripolis, überhaupt erst ein staatliches Gebilde aufzubauen. Muss in Ägypten die Polizei reformiert und die Armee aus der Politik gedrängt werden, geht es in Libyen darum, Institutionen zu schaffen, die das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen können.

privat
Karim El-Gawhary

lebt in Kairo und arbeitet seit zwei Jahrzehnten für deutschsprachige Medien. Seit dieser Zeit ist er auch Nahostkorrespondent der taz. 2011 erschien sein „Tagebuch der arabischen Revolution“ (Kremayr & Scheriau).

Rekordhaushalt dank Ölboom

Die bisherige Bilanz ist durchwachsen, aber nicht so negativ, wie oft berichtet. Das größte Erfolgserlebnis waren weitgehend friedliche Parlamentswahlen im Sommer. Wirtschaftlich erholt sich das Land wesentlich schneller als erwartet und hat damit bessere Startbedingungen als Tunesien und Ägypten. Mit 56 Milliarden Dollar verfügt das Land 2012 über den Rekordhaushalt seiner Geschichte. Grundlage dafür bildet das Öl; täglich werden 1,6 Millionen Fass gefördert.

Aber bizarrerweise hat das Land keine Verwaltungsstrukturen, um dieses Geld auszugeben. Alle zehn Tage verdient der Staat eine Milliarde an Petrodollars, aber bis jetzt gibt es noch nicht einmal eine Regierung, die die strategischen Entscheidungen trifft, wo das Geld eingesetzt wird. Die muss der neu gewählte Premier Ali Sidan erst bilden.

Politisch hat er es mit einem sehr komplexen Parlament zu tun. Die Sorge des Westens, dass Libyen zum islamischen Gottesstaat wird, hat sich zunächst als unbegründet erwiesen. Eine Koalition der Liberalen unter Mahmud Dschibril bildet die größte Fraktion, wenngleich nicht die Mehrheit. Islamisch-konservative Parteien wie die Muslimbrüder haben bei den Wahlen schwächer abgeschnitten als erwartet.

Unscharfe Kategorien

Ein großer Teil der Abgeordneten sind als lokale VIPs, als Unabhängige ohne Parteizugehörigkeit, gewählt worden und sind unsichere Kantonisten in der neuen Legislative. Ohnehin sind die Kategorien „Islamisten“ und „Liberale“ in der politischen Landschaft Libyens unscharf. Als konservativ und traditionell dürften sich die meisten Libyer beschreiben lassen, die einen sind nicht radikal islamistisch, die anderen nicht extrem liberal. An der Ansicht, dass die Religion eine Rolle in der Politik spielen sollte, zweifelt ohnehin niemand offen.

Derweil geht es beim Wiederaufbau oft einfach nur um pragmatische Politik. Aber erfahrene Politiker und Technokraten sind Mangelware. Erfahrung in Verwaltung und Politik konnten nur die Anhänger Gaddafis sammeln, die sind diskreditiert. Technokratisch konnte man sich zwar auch im Exil bilden lassen, aber denen, die von außen kommen, haftet der Ruf an, mit der inneren Dynamik des Landes nicht wirklich vertraut zu sein. Es dürfte also nicht einfach sein, die zu schaffenden Ministerien zu bestücken.

Einen effektiven zentralen Verwaltungsapparat aufzubauen, dem die Libyer mehr trauen als ihren provisorischen lokalen Strukturen, ist zusammen mit dem Aufbau von Polizei und Armee die heute dringlichste Aufgabe, um das größte Problem des Landes unter Kontrolle zu bekommen: die schwer bewaffneten Milizen, die an vielen Orten de facto den Ton angeben.

Bewaffnete Subunternehmer

Aber auch sie sind Teil eines Prozesses. Nach dem Sturz Gaddafis, ohne einen eigenen Sicherheitsapparat, konnte der Staat gar nicht anders, als die Milizen als staatliche Subunternehmer einzusetzen. Natürlich verfolgen sie lokale Interessen, Rache bleibt ein wichtiges Motiv. Nach 42 Jahren Gaddafi hat eine zum Teil schwer bewaffnete Bevölkerung noch viele offene Rechnungen zu begleichen. Die Justiz hat kaum zu arbeiten begonnen, von einem Versöhnungsprozess ist das Land noch weit entfernt. Und sicherlich haben in dieser unübersichtlichen Gemengelage auch einige militante islamistische Milizen ihre Nischen gefunden und treiben ihr Unwesen, wie der Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi deutlich gezeigt hat.

Aber es war auch dieser unübersichtliche Flickenteppich aus Stammesführern, lokalen Revolutionshelden und Milizen, mit dem es die Libyer am Ende geschafft haben, dass lokale Konflikte nicht völlig aus dem Ruder liefen und das Land doch zusammengehalten und oft schlecht, aber immerhin verwaltet wurde. Aber natürlich ist das kein Modell für die Zukunft. Ohne Armee und Polizei waren es die Milizen, die oft Sicherheit und Ruhe geschaffen hatten, um dann am Ende zum größten Unsicherheits- und Unruhefaktor zu werden.

Dieser Prozess spiegelt sich in der öffentlichen Meinung wider: Wurden die Milizen zunächst als Revolutionshelden gefeiert, wird die Kluft zwischen ihnen und der Bevölkerung immer größer. In Bengasi wurde sie sogar aus der Stadt gejagt. Die Menschen haben genug von jungen Männern mit zerzausten Bärten, die sie an Straßensperren kontrollieren. Aber sie wissen auch, dass die zentralen Machtverhältnisse erst ausgehandelt werden müssen, bevor der libysche Flickenteppich zu einem einheitlichen Stück gewebt werden kann. Die schönste Bilanz des ersten Jahres nach Gaddafi zieht das Beratungsinstitut International Crisis Group: „In Libyen gibt es viel zu feiern und ebenso viel, um sich Sorgen zu machen.“

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Karim El-Gawhary
Auslandskorrespondent Ägypten
Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)
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5 Kommentare

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  • T
    taztest

    EIN SEHR GUTER AUSGEWOGENER KOMMENTAR!

     

    Karim El-Gawhary gelingt es, die aktuellen Probleme und Chancen Libyens klar und ideologiefrei darzustellen.

     

    Solche nüchternen Analysen wünscht man sich.

  • GF
    Geroge Flober

    Unglaublich verlogen und geschoent dieser Artikel. Das ist nicht mal diskussionswuerdig. Ich kann dem Autor nur mal einen Besuch des Landes anraten. Vor allem Sirtes und Bani Walids, wo genau in diesen Moment Mord, willkuerlicher Totschlag, Vergewaltigungen, Enteignungen, Vertreibungen und Internierungen durch die tollen Rebellen Alltag sind. Diese dargestellten Schoenbetereien sind NICHTS als propagandistische Luegen um den voelkerrechtswidrigen NATO Terroreinsatz zu beschoenigen. Herr Soundso aus KAIRO! Ihre Fernanalysen sind hinterhaeltig, gelogen, beschoenigt und VOELLIG WERTLOS! Sie stellen ja nicht mal die wichtige Frage: Wo ist die Mia. $ die alle 10 Tage in WELCHE Kasse fliesst. Unglaublich sowas zu veroeffentlichen. Fehlt nur noch die 'Analyse' des 'renomierten' Oxford Instituts.

  • N
    nahab

    "Mit 56 Milliarden Dollar verfügt das Land 2012 über den Rekordhaushalt seiner Geschichte.

    Grundlage dafür bildet das Öl; täglich werden 1,6 Millionen Fass gefördert.

    Grundlage dafür war die verstaatlichung eines Grossteils der Ölproduktion unter Gaddafi;

    "Die Menschen haben genug von jungen Männern mit zerzausten Bärten, die sie an Straßensperren kontrollieren";

    einer der Gruende, warum die Mehrzahl der Bewohner Libyens Gaddafis Politik in den Siebzigern zustimmten; sie waren der lokalen Machtansprueche ueberdruessig.

    "Ein Jahr nach Gaddafis Tod geht es dem nordafrikanischen Land besser, als viele glauben";

    was fuer eine inkompetente und journalistisch unwuerdige Aussage ist das denn?

    Viele Schulen und Krankenhaeuser sind immer noch geschlossen, das Bruttoinlandsprodukt ist weit unter dem des Vorkriegsniveaus; das Land ist politisch gespalten, teilweise unter Kontrolle von lokalen Milizen, und die Arbeitslosenquote unter jugendlichen hat inzwischen das Niveau anderer afrikanischer Staaten erreicht! Glueckwunsch, das Land hat sich nicht in einem blutigen Buergerkrieg zerrissen????

  • BG
    Bernd Goldammer

    Mit der libyschen Realität hat auch dieser Artikel nicht das Geringste zu tun. Wie viele Millionen Dollar werden jetzt für Medienberater in diese Kampagne investiert um eine Nachkriegssituation zu zeichnen, die nicht stimmt? Das Fehlen staatlicher Strukturen ist damit zu erklären, dass die Freischärler keine Gaddafi Leute im Land zulassen. Viele von ihnen sind sofort abgeschlachtet worden. Jetzt funktionieren weder die Armee, noch die Verwaltung. Ein paar Monate bevor Nato und Rebellen das Land zusammengeschossen haben, funktionierten alles noch . Sogar noch unter den Kriegsbedingungen, die die NATO-Verbrecher und ihre hoch bezahlten al-Qaida Bodentruppen über das Land gebracht haben. Darüber hatten Sie, lieber Karim El-Gawhary, sich doch oft genug beklagt. Jetzt ist Libyen so, wie sie es haben wollten. Und der barbarisch umgebrachte Gaddafi soll jetzt daran schuld sein? Sie machen sich lächerlich!

  • K
    Kaboom

    Nichts wäre schlimmer für die europäischen und amerikanischen Rechtspopulisten bzw. Rechtsextremisten, wenn sich aus dem arabischen Frühling Länder mit einer funktionierenden Demokratie entwickeln würden.

    DAS ist das ultimative Horrorszenario für die Islamophobie-Szene.