Debatte Leitkultur: Sind Sie integriert?
Die ganze Hysterie um die bedrohte deutsche sogenannte Leitkultur, die durch die Sarrazin-Debatte erneut ausgelöst wurde, ist nichts als eine Mogelpackung für den Sozialneid von oben.
S eit Thilo Sarrazins Bestseller fühle ich mich nicht mehr gut integriert in die Bundesrepublik Deutschland. Nicht weil ich ihn gelesen hätte, sondern weil ich mich geniere, ihn mir zu kaufen. Ausweichen konnte ich dem Buch allerdings nicht, Stücker hundert Exemplare liegen auf einer Palette direkt neben der Kasse der nächstgelegenen Buchhandlung. Ich hätte mir einfach eins nehmen, es dem vermutlich aus einer türkisch-deutschen Familie stammenden Buchhändler hinlegen und ihm zuraunen können: "Nur für die Recherche!"
Andererseits ist dieser Händler ein Profi, er hätte kühl den Preis eingetippt und mir das Buch sogar als Weihnachtsgeschenk verpackt. Nein, das muss ich zugeben, ich habe Sarrazins Bestseller einzig und allein deshalb nicht gelesen, weil er mir peinlich ist. Wegen dieser Ehrpusseligkeit habe ich mich aus der folgenreichsten Diskussion des Jahres gestohlen. Und da ich damit meine staatsbürgerliche Pflicht, gesellschaftliche Diskussionen zu verfolgen, grob vernachlässigt habe, habe ich mich freiwillig desintegriert. Denn heißt "Integration" nicht auch, an politischen Prozessen zu partizipieren?
Das wollte ich nun genauer wissen, aber in einem halben Dutzend Fachbücher zum Thema fand ich immer wieder denselben Hinweis, es sei in dreißig oder vierzig Jahren Migrationsforschung noch nicht gelungen, zu einer allgemeingültigen Definition von "Integration" zu gelangen. Der Begriff verschwimmt, je nach Autor und Forschungsansatz, mit Absorption, Adaption, Akkomodation, Akkulturation, Assimilation, Dispersion, Inkorporation, Inklusion, Segregation und auch gern mit Angleichung und Anpassung. Da ist es schwer für einen, der sich integrieren will, zu wissen, was von ihm verlangt wird. "Soll ich mich eher assimilieren oder inkludieren, oder vielleicht erst ein wenig adaptieren, dann dispergieren?" Das sind die Diskussionen bei uns in Neukölln.
Und ich frage mich, ob ich die ganze Zeit überhaupt integriert gewesen bin. Aber was bedeutet das Wort? Mein ehrwürdiges lateinisches Wörterbuch, Menge-Güthling, achte Auflage, Berlin 1954, sagt, die "integratio" sei die "Erneuerung" und die "Wiederherstellung". Das klingt doch erst einmal ganz erfreulich, wirft aber Fragen auf: Soll sich derjenige, der sich integriert, erneuern? Eigentlich häutet er sich eher, als dass er sich wiederherstellt. Und dass sich das Aufnahmeland wiederherstellte, wäre unlogisch, denn wenn etwas Neues oder ein Neuer hinzukommt, kann es schlecht in einen Urzustand zurückkehren, es sei denn, der Neue wäre eine Art verlorener Sohn, ein dringend Vermisster.
Vielleicht könnte man sich darauf einigen, dass, wenn sich Menschen ansiedeln, dadurch das ganze Land erneuert wird. Den "melting pot" habe ich mir als einen gigantischen Eintopf vorgestellt, der umso besser schmeckt, je mehr unterschiedliches Gemüse hineingeworfen wird. Ich hoffe, es fühlt sich jetzt niemand als Gemüse verunglimpft.
Denn das Bild stimmt gar nicht, nicht einmal die Etymologie stimmt. In einem politologischen Lexikon finde ich unter "Integration" den Hinweis, dieses Wort stamme zwar vom lateinischen "integratio", aber das heiße "Einbeziehung". Politologenlatein ernüchtert. Nix mit Erneuerung, aber immerhin hat der Vorgang, so übersetzt, zwei Seiten. Wo einbezogen wird, gibt es einen Einbeziehenden und einen Einbezogenen. "Einbeziehung" lässt nicht mehr an einen armen Teufel denken, der partout Deutscher werden will, aber nicht weiß, wie er es anstellen soll, sondern an die deutsche "Gastarbeiter"-Politik (deren Neuauflage gerade von der Industrie gefordert wird).
Dieser Artikel ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique
Weil hier Leute dringend gebraucht wurden, wurden welche aus Italien, Griechenland oder der Türkei einbezogen beziehungsweise erst einmal herangezogen. "Einbezogen", das sollte nicht heißen, mit anderen, gar den Altdeutschen, in einen Suppentopf geworfen, sondern funktional eingebaut zu werden wie in eine Maschine. Die Gastarbeiter kamen zwar nicht in Politik und Kultur vor, aber standen doch an ihrer Baustelle, an ihrem Fließbandplatz, in ihrer Imbissbude ihren Mann.
Wenn es damals "Integrationsverweigerer" gegeben hat, dann waren es Staat und Gesellschaft selbst, die den Giuseppe nur bei der Arbeit und sonst nirgendwo dabeihaben wollten. Eine gute Nachricht für Leute wie mich, die sich nun entspannt zurücklehnen können: Nicht ich muss das Land einbeziehen, sondern das Land mich.
Wenn es mir beispielsweise mit Horst Seehofer kommt, macht es mir kein intelligentes Angebot. Denn, bitte, was soll man dazu sagen, wenn ausgerechnet ein Bayer empfiehlt, "Integrationsverweigerer härter anzupacken"? Immerhin hat der bayerische Landtag bis heute das Grundgesetz nicht anerkannt, unter anderem, weil bayerische Politiker es für ein "Werk des säkularisierten Geistes unseres Jahrhunderts" hielten und vielleicht noch immer halten.
Solche Fundamentalisten würden gnadenlos durch die Einbürgerungsprüfung rasseln. Es sei ohnehin jedem geraten, sich gründlich vorzubereiten, bevor er den Fragenkatalog des Bundesamts für Migration beantwortet. Da steht beispielsweise: "Was ist Deutschland nicht? Eine Demokratie. Ein Rechtsstaat. Eine Monarchie. Ein Sozialstaat." Liberale und Linke sollten nicht ihrem ersten Impuls nachgeben und "Sozialstaat" ankreuzen, denn das ist Deutschland offiziell noch immer.
Legte man diesen Test dem Durchschnittsdeutschen vor, wäre man vielleicht überrascht davon, wer alles schlecht integriert ist. Weiß denn jeder Deutsche, wie viele Bundesländer es gibt, Mallorca nicht mitgerechnet? Weiß er, wie viele 1990 hinzugekommen sind? Muss er das überhaupt wissen? Muss einer Goethe gelesen haben oder wenigstens den Texter der Nationalhymne kennen? Muss einer, der hier leben will, deutscher sein als die Deutschen? Muss er, wenn er den großen arabischen Aufklärer des 12. Jahrhunderts, Averroës, für anregender als Kant hält, in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden? Und wenn das Grundgesetz "unsere Werteordnung" ist, wie Armin Laschet gesagt hat, ist damit auch der Artikel 15 gemeint ("Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung … in Gemeineigentum … überführt werden")?
"Leitkultur" versteht nur, wer nicht dumm fragt. Sie ist nicht nur der Schrecken der Immigranten, sondern auch die Hoffnung all der Eingeborenen, die von der Globalisierung überfordert sind. Die selbst ernannten Bewahrer der Leitkultur behaupten, sie sei, vom Lindwurm bis Lena Meyer-Landrut, aus demselben Teig geknetet. Doch der Kuchen fällt auseinander, sobald er aus der Form gelöst wird.
So heißt es im Grundsatzprogramm der CDU, das es wagt, den Begriff der "Leitkultur" zu definieren, noch vor den üblichen Bekenntnissen zu Freiheit, Toleranz, Geschichte und Abendland: "Bedingungen unseres Zusammenlebens sind zuerst: die deutsche Sprache zu beherrschen, achtungsvoll dem Mitbürger zu begegnen und zu Leistung und Verantwortung bereit zu sein." Es ist wichtig, dass ein Zugereister Deutsch lernt, damit ihn Sarrazin oder Seehofer auch beleidigen können. Aber ist es so typisch deutsch, dem "Mitbürger achtungsvoll zu begegnen"? Ist es auch nur typisch CDU? Sind deren Politiker, als sie zu einer angemessenen Erhöhung des Hartz-IV-Satzes nicht bereit waren, damit ihren Mitbürgern achtungsvoll begegnet? Ist ihnen Guido Westerwelle achtungsvoll begegnet, als er in Sozialhilfewohnungen spätrömische Dekadenz vermutete? Oder sind Arme keine Mitbürger?
Achtung der Armen ist, scheint es, von der Leitkultur nicht vorgesehen, nicht von dieser jedenfalls. Und genau betrachtet, sieht die Leitkultur immer genauso aus wie der Pinsel, der sie jeweils verkündet, im Glauben, alle sollten sein wie er. Und da frage ich mich, warum ich der leistungs- und verantwortungsbereiten Leitkultur der CDU, der katholischen der CSU, der protestantischen der SPD oder irgendeiner andern hinterhertrotten soll, und ob es nicht viele gute Gründe dafür gibt, all denen die Integration zu verweigern, die sie andern verweigern?
Le Monde diplomatique Nr. 9366 vom 10.12.2010
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