Debatte Krise in Belgien: Das Land des Surrealismus
Steht Belgien vor dem endgültigen Zerfall? Die Wallonen fürchten um ihre Privilegien, die Flamen wollen keinen neuen Kompromiss. In diesem Konflikt steckt viel Geschichte.
V on außen betrachtet steckt Belgien in einer tiefen Krise. Zum ersten Mal sorgen sich ziemlich viele Belgier um den Erhalt ihrer Nation, darunter auch politische Führer, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Die belgische Fahne hängt von Brüsseler Fenstern und wird auf Demonstrationen als positives Symbol gewedelt. Darauf muss man erst mal kommen. Zur gleichen Zeit scheint alles ganz normal. Brüssel ist bis heute Sitz der EU und der Nato geblieben - wen kümmert es da, ob es auch eine belgische Regierung gibt? In Ländern wie Italien, den Niederlanden oder Tschechien sind schließlich auch schon ganze Monate vergangen, ohne dass eine Regierung gebildet werden konnte.
Morgens, mittags und abends bombardieren die Medien das Land mit dem neuesten Stand der Krise. Dennoch steht Belgien keineswegs am Rande eines Bürgerkriegs. Es hat keine Gewaltausbrüche zwischen Flamen und Wallonen gegeben. Nur die Politiker beschimpfen sich, aber die sind nicht repräsentativ für die Masse der Gesellschaft.
Belgien ist das Land des Surrealismus. Diese Krise, so scheint es, ist ungefähr so wirklich wie die nackten Frauen auf den Bildern des Malers Paul Delvaux, der gerne mit einem Ausdruck völliger Losgelöstheit von den Sorgen der Welt in Parks und Bahnhöfen herumzuspazieren zu pflegte. Belgiens Regierungskrise dreht sich seit fast einem halben Jahr um die Bildung einer Koalition zwischen "orangen" Christsozialen und "blauen" Liberalen - eine ähnliche Farbkonstellation wie im Comic-Film "Tim und die Blauen Orangen". Es war das Votum eines flämischen Parlamentsausschusses, das am 8. November zum vorläufigen Abbruch der Koalitionsverhandlungen führte.
Das Votum vom 8. November handelte von der Aufteilung des Wahlbezirks Bruxelles-Halle-Vilvorde, der die Vorstädte der belgischen Hauptstadt umfasst. Hier wohnen viele Frankophone auf nominell flämischem Gebiet, und bisher besitzen sie das Recht, Parteien ihrer Sprache zu wählen und mit Behörden oder Gerichten in ihrer eigenen Sprache verkehren zu dürfen. Dass Frankophone weiterhin auf ihrer Sprache bestehen, obwohl sie im flämischen Landesteil leben, wird in Flandern jedoch als permanente Herausforderung betrachtet. Der Ausschuss schaffte diese Privilegien also ab.
Vieles bleibt in diesem Streit ungesagt. Die Flamen finden die Wallonen hochnäsig, arrogant oder einfach nachlässig, weil sie sich keine Mühe geben, Flämisch zu lernen, während viele Flamen durchaus Französisch können. Die Wallonen wiederum fragen sich, wieso sie das auf internationalem Parkett völlig unbedeutende Flämisch lernen sollen, wo sie doch ihre eigene, viel wichtigere Sprache haben.
Es steckt viel Geschichte in diesen Missverständnissen. Früher herrschte in Belgien unangefochten das Französische vor; auch in Flandern war es die Sprache der Aristokratie und des Bürgertums. Noch während des Ersten Weltkrieges wurde so mancher flämischer Soldat hingerichtet, weil er die auf Französisch erteilten Befehle nicht verstand. Das Flämische setzte sich von unten durch, als Reaktion auf den schleichenden Verfall der alten belgischen Oberschicht.
Heute ist Flandern reicher als Wallonien. Der aufstrebende Landesteil will nicht mehr so viel Geld in einen belgischen Bundeshaushalt stecken, aus dem sich dann wallonische Politiker, Sozialisten insbesondere, freizügig bedienen. Walloniens informelle Hauptstadt Lüttich ist legendär für seine Misswirtschaft und Korruption. Daher speist sich die Forderung nach einer Verfassungsreform, um mehr Kompetenzen als bisher von der föderalen auf die regionale Ebene zu verlagern und sicherzustellen, dass die Flamen allein über ihr Verkehrswesen, die Post, das Gesundheitssystem und die Sozialversicherungen verfügen können.
Nach dem Mehrheitsprinzip müsste es so sein, dass wenn die Flamen etwas in Belgien wollen, es dann auch geschieht - finden die Flamen. Die Wallonen sehen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. Sie sehen, wie ihnen die Kontrolle über die belgischen Institutionen entgleitet, und ziehen sich aus ihnen zurück. Doch wenn eine Sprachgruppe aus dem Parlament auszieht, kann die andere nicht im Alleingang die Verfassung ändern. Deshalb kann nicht einmal das berühmte Ausschussvotum vom 8. November Gesetzeskraft erlangen. Dazu bräuchte es eine Regierung, und deshalb gibt es keine.
Den Wallonen macht die Unversöhnlichkeit vieler Flamen Angst. Die größte Partei Flanderns ist der rechtsextreme Vlaams Belang, und viele flämische Politiker verlangen eine Amnestie für flämisch-belgische Kollaborateure während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, während viele Wallonen damals im Widerstand waren. Zum Vorwurf, die Flamen seien Faschisten, ist es da nicht weit, zumal viele Flamen ganz offen die Abschaffung Belgiens predigen.
Der flämische Christsoziale Yves Leterme, derzeit mit der Regierungsbildung beauftragt, verkörpert den belgischen Surrealismus wie kein Zweiter. Als er im Fernsehen gebeten wurde, die belgische Nationalhymne zu singen, stimmte er die französische Marseillaise an. Kann so jemand Belgien führen? Immerhin hat Belgiens König, neben dem Bier das letzte Symbol der belgischen Nation, die Initiative ergriffen. Er hat die Präsidenten der beiden Parlamentskammern - den Flamen Herman Van Rompuy und den Wallonen Armand de Decker - zu "Versöhnern" ernannt, die jetzt Gespräche mit der Legislative führen sollen.
Die Mehrheit der Flamen findet aber: lieber keine Regierung als ein neuer Kompromiss. Notfalls eben ohne Belgien und ohne König. Und in Wallonien regt sich die fast vergessene Bewegung der "Rattachisten", die den frankophonen Landesteil an Frankreich anschließen will. Es ist ja schon lange so, dass ein Wallone nur in Paris etwas werden kann - die Sänger Jacques Brel und Annie Cordy, die Filmschauspieler Benoit Poelvoorde und Marie Gillain sind dafür gute Beispiele. Auch dieser Traum zeugt vom wallonischen Minderwertigkeitskomplex. Kein Flame käme schließlich auf die Idee, den kulturlosen Niederlanden beitreten zu wollen.
So zerfällt der belgische Staat allmählich von innen. Der Zentralstaat sieht zu, wie die Regionen immer mehr Kompetenzen an sich ziehen. Im Ausland wird deshalb schon das tschechoslowakische Szenario erwogen, mit einer friedlichen Teilung des Landes in zwei Teile. Das funktioniert in Belgien aber nicht, denn was würde dann aus Brüssel? Die Hauptstadt liegt zwar in Flandern, ist aber zu 85 Prozent frankophon geprägt.
Währenddessen geht das Leben seinen Gang. In Alltag spielt die Frage, ob es denn inzwischen eine Regierung gibt, keine große Rolle. Die politische Klasse und die Bevölkerung leben in verschiedenen Welten. "Dies ist keine Pfeife" heißt das berühmteste Bild des belgischen surrealistischen Malers René Magritte, das eine Pfeife zeigt. "Dies ist keine Krise" könnte man den Zustand Belgiens heute beschreiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen