Debatte Kosovo-Unabhängigkeit: Das schlechte Beispiel

Aus der Unabhängigkeit des Kosovo entstehen schwerwiegende Probleme. Sie könnte als Präzedenzfall für andere Konflikte dienen. Das Völkerrecht droht beschädigt zu werden.

Die USA und die EU geben sich entschlossen, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Damit erfährt die Sezession internationale Anerkennung - gegen den Willen Serbiens und der Vetomacht Russlands. Der Westen hält seinen Schritt für überfällig, das Kosovo gehöre ohnehin seit 1999 de facto nicht mehr zu Serbien. Er setzt darauf, dass Belgrad und Moskau nach und nach klein beigeben. Die Hoffnung könnte trügen. Auch wirft diese Politik des Fait accompli einen Rattenschwanz von Folgeproblemen auf.

Eine einvernehmliche Lösung ist ausgeschlossen, weil die Antagonisten auf ihren Maximalforderungen beharren. Während die Serben ihren Anspruch auf das Amselfeld als "Wiege ihrer Nation" historisch und juristisch begründen, berufen sich die Albaner auf ihr nationales Selbstbestimmungsrecht und machen geltend, Repression und "ethnische Säuberungen" unter Miloðevic schlössen die Rückkehr zu Serbien aus. An diesen unvereinbaren Positionen hat sich nichts geändert. Ihnen trug bekanntlich schon die UN-Resolution 1244 von 1999 Rechnung: Sie schrieb die Integrität des Staates fest und entzog ihm zugleich das Kosovo.

Lange hielt sich der Westen an die Formel "Standards vor Status". Rechtsstaat, Freiheitsrechte, Gleichberechtigung und Freizügigkeit sollten gewährleistet sein, ehe man über den Endstatus befinden wolle. Dass diese Standards nicht erfüllt sind, konstatieren internationale Vermittler unisono. Gleichwohl rückte der Westen nach den Pogromen von 2004 von der Maxime "Standards vor Status" ab.

Im Kosovo sind die Positionen unverrückt wie eh und je. Dass Washington erklärte, es werde die Unabhängigkeit anerkennen, hat dazu auch beigetragen. Belgrad wiederholte gebetsmühlenhaft die Formel "mehr als Autonomie, weniger als Souveränität", ohne sie je konkret mit Inhalt zu füllen. Das Kosovo müsse bei Serbien bleiben - auf Angebote für das Zusammenleben wartete man allerdings vergebens. Prishtina fordert Unabhängigkeit und nichts als diese. Es tat wenig, um die Sicherheit der Minderheiten zu verbessern und die Geflohenen zurückzuholen.

Deshalb legte Ahtisaari der UNO seinen Plan vor: kontrollierte Eigenstaatlichkeit, kombiniert mit weitgehendem Minderheitenschutz. Anstelle der Unmik soll die EU die Konditionierungen überwachen und das Kosovo in die EU führen. Dazu hat diese ein International Civilian Office aus rund 70 Experten bereitgestellt. Es soll analog zu Bosnien mit weitgehenden Vollmachten sicherstellen, dass die Standards implementiert werden. Hinzu kommt eine Rechtsstaatsmission aus rund 1.800 Polizisten und Richtern, um die prekäre Sicherheitslage zu verbessern. Beide sollen einsatzbereit sein.

Im Kosovo gibt es nur mehr oder weniger schlechte Lösungen. Der Ahtisaari-Plan gilt vielen als die am wenigsten schlechte. Das würde zutreffen, hätte sich ihn der Sicherheitsrat zu eigen gemacht. Seit das 2007 am Einspruch Russlands gescheitert ist, gilt es nicht mehr ohne weiteres. An der Misere im Kosovo dürfte die Unabhängigkeit zunächst wenig ändern, Fremdbestimmung und Schwebezustand bleiben. Der Zugang zu Vereinten Nationen und OSZE, aber auch zum Internationalen Währungsfonds und Weltbank bleibt ihm vorerst verwehrt.

Wie geht es weiter? Nur die ersten Schritte scheinen klar. Sie führen indes in eine Zukunft voller Fallstricke. Zwar haben die Kosovaren den Ahtisaari-Plan und die westliche Kontrolle akzeptiert. USA und EU wollen diese Sezession anerkennen, die Nato bleibt auf der Grundlage von Resolution 1244 im Kosovo präsent.

Wie aber soll die ethnische Spaltung des Landes überwunden werden? Einem unabhängigen Kosovo bleibt die Hoheitsgewalt über den von Serben bewohnten Norden und die serbischen Enklaven versagt, schließt man ihre Durchsetzung mit militärischen Mitteln aus. Dass die einseitige Unabhängigkeit die Kosovo-Serben zur Kooperation motivieren könnte, bleibt nichts als eine vage Hoffnung.

Die regionale Stabilität verbessert sich nicht. Mit einem unabhängigen Kosovo triumphiert jene ethnonationale Logik abermals, der sich EU und Nato doch gerade widersetzten. Die serbischen Gebiete im Norden könnten sich vom Kosovo abspalten. Auch besteht die Gefahr, dass "ethnische Säuberungen" weitergehen - Umsiedlungen bleiben barbarisch, selbst wenn sie international kontrolliert und unblutig erfolgen. Die Spaltung des Kosovo widerspräche allem, wofür der Westen seit 1999 eingetreten ist. Hinzu kommt das Risiko einer regionalen Destabilisierung. In Mazedonien drohen Sezessionisten unter der albanischen Minderheit neuen Auftrieb zu erfahren. Erst recht dürfte die Bereitschaft der Republika Srpska noch weiter sinken, sich in den Staat Bosnien und Herzegowina zu integrieren. Damit steht auch das Abkommen von Dayton auf dem Spiel. Wie Stabilität auf dem Westbalkan erreicht werden soll ohne die Kooperation Serbiens, des gewichtigsten Akteurs, steht in den Sternen.

Das Kosovo droht zum Präzedenzfall für andere "eingefrorene" Konflikte zu werden, von Transnistrien bis Südossetien und Abchasien. Und was ist mit Nordzypern? Alles Beteuern, das Kosovo sei ein ganz besonders gelagerter Fall, gleichen dem sprichwörtlichen Pfeifen im Wald. Präzedenzfälle schafft man nicht, indem man sie erklärt oder leugnet, sondern durch die normative Kraft des Faktischen.

Eine an der UNO vorbei durchgesetzte Unabhängigkeit tangiert grundlegende Weltordnungsfragen. Sie stärkt Ängste bei allen, denen neuere Tendenzen im Völkerrecht, Sicherheit nicht mehr nur Staaten, sondern auch den Individuen zuzugestehen - Stichwort Responsibility to Protect - und die staatliche Souveränität einzuschränken, ohnehin ein Dorn im Auge ist. Der fragile Konsens über diese neuen völkerrechtlichen Normen könnte beschädigt werden.

Infrage steht zudem der Anspruch der Europäischen Union, zum Multilateralismus und zur Stärkung der Vereinten Nationen beizutragen. Da ein UN-Mandat fehlt, ist die völkerrechtliche Grundlage für die EU-Missionen, die Unmik ablösen sollen, wackelig. Die EU ist aber als Staatenverbund besonders auf ein an multilateralen Prinzipien orientiertes Umfeld angewiesen. Deshalb wiegt für sie schwer, dass die neuerliche westliche Selbstmandatierung im Kosovo die internationale Rechtsordnung belasten könnte. Das steht ihrem bisherigen Selbstverständnis entgegen. Auch darf niemandem an weiter verschlechterten Beziehungen zu Moskau, das in diesem Fall das Völkerrecht auf seiner Seite hat, gelegen sein.

Es wahr wohl etwas voreilig, schon das "Endspiel" der europäischen Befriedung des Balkans zu prognostizieren. Selbst wenn es gelingt, das Wiederaufflammen ethnischer Gewalt zu verhindern, ist der Balkan noch lange nicht pazifiziert. Die EU muss sich vielmehr darauf einstellen, noch auf Jahre massiv präsent zu sein. Und ein Endspiel kann man auch verlieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.