Debatte Fluggastüberwachung: Der Verdacht fliegt mit
Seit zehn Jahren wehrt sich das EU-Parlament gegen die Überwachung aller Fluggäste in Europa. Jetzt soll sie auch hier salonfähig werden.
D as Europäische Parlament kippelt: Konservative, Sozialdemokraten und Liberale haben das Abkommen der EU mit Australien angenommen, das die Weitergabe europäischer Fluggastdaten ermöglicht.
Fast zehn Jahre lang haben sich die Abgeordneten im EU-Parlament dagegen gewehrt, dass personenbezogene Daten anlasslos gespeichert und verarbeitet werden, nun haben sie Muffensausen bekommen und stellen rechtsstaatliche Grundsätze in Frage.
Die Bundesregierung kneift: sie hat sich bei der Abstimmung im Rat enthalten, obwohl das Abkommen klar gegen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts verstößt. Das könnte ein gefährlicher Einstieg in noch weiter gehende Vorhaben werden.
gehört zum Jahrgang 1982. Er ist der jüngste deutsche Abgeordnete im Europäischen Parlament. Der ehemalige Sprecher der Grünen Jugend hat sich als Datenschutz-, Innen- und Justizexperte einen Namen gemacht.
Wenn es nach der liberalen EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und einer großen Mehrheit im Innenministerrat geht, sollen künftig sämtliche Daten von Fluggästen ausgewertet werden, die in die EU einreisen oder sie auf dem Luftwege verlassen. Die Briten fordern gar die Überwachung aller Flugreisen auch innerhalb der EU. Erklärtes Ziel ist es, Terroristen und Drogenschmuggler aufzuspüren. Doch diese anlasslose Vorratsdatenspeicherung macht alle EU-Reisenden zu Verdächtigen.
Nach Meinung der meisten Abgeordneten des Innenausschusses im Europäischen Parlament widerspricht eine solche Massenauswertung der verfassungsrechtlichen Datenschutzrechtsprechung in den EU-Staaten und bedroht rechtsstaatliche Prinzipien. Ob sie bei ihrer Meinung bleiben, ist aber offensichtlich keineswegs ausgemacht.
11. September, Vorbild USA
Welche Auswirkungen das europäische Überwachungsvorhaben auf die Grundrechte jeder einzelnen Person haben wird, zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten. Dort gehört die Fluggastdatenüberwachung seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zu den zentralen Antiterrormaßnahmen. Unter strengster Geheimhaltung werden in einem Abwehrzentrum des US-Heimatschutzministeriums im Bundesstaat Virginia die Informationen aller Fluggäste, die in die USA einreisen oder diese verlassen, analysiert und mit anderen Ermittlungsinformationen verknüpft.
Für die Reisenden bleibt völlig unklar, welche Datensätze miteinander verknüpft und welche weiteren Überwachungsmaßnahmen daraufhin angeordnet werden. Zahlreiche Beispiele belegen, dass bereits ungewöhnliche Namen, Zusatzgepäck oder auffällige Menüwünsche im Flugzeug verdächtig wirken und sogar zum dauerhaften Einreiseverbot führen können.
Für die Verarbeitung der Daten von EU-Bürgern gab es anfangs nicht einmal eine Rechtsgrundlage. Erst auf den jahrelangen Druck des EU-Parlaments handelten USA und EU ein Abkommen aus. Doch statt das Ergebnis der Verhandlungen zu bestätigen, forderten die durch den Lissabonvertrag gestärkten Abgeordneten des EU-Parlaments die Kommission bereits im Mai 2010 einhellig auf, restriktivere Regeln auszuhandeln.
Ungeachtet dessen will die US-Regierung die Fluggastdatenüberwachung eher ausweiten als begrenzen. In den nächsten Monaten könnte es zum Showdown kommen, falls Ministerrat und EU-Parlament das neu verhandelte Abkommen ablehnen und damit den Datentransfer beenden. Washington droht für diesen Fall bereits mit nicht weniger, als europäischen Fluglinien dauerhaft die Landeerlaubnis zu entziehen.
Entwürfe werden verharmlost
Die Befürworter ausgeweiteter Überwachungsmaßnahmen wittern ihre Chance, die Auswertung der Fluggastdaten auch in der EU salonfähig zu machen. EU-Kommissarin Cecilia Malmström hatte als liberale EU-Parlamentarierin noch vor wenigen Jahren gegen das Vorgehen der US-Behörden argumentiert. Nun legt sie selbst einen Vorschlag für ein europäisches Programm vor, um Fluggastdaten auszuwerten, das dem US-amerikanischen Herangehen in zentralen Punkten ähnelt.
Zugleich verharmlost Malmström die Dimension des Vorhabens und bewirbt es, als handle es sich um ein Datenschutzgesetz: Die erfassten Vorratsdaten würden nach 30 Tagen pseudonymisiert, danach gelte eine Zugriffsbeschränkung, die allein für Verdachtsfälle aufgehoben werde. Malmström verschweigt aber, dass diese Zugriffsbeschränkung nach geltendem Recht ohnehin für jede Form der Datenspeicherung gilt.
Die Kommissarin will den Eindruck vermeiden, die Vorratsdatenspeicherung diene der Rasterfahndung oder gar dem so genannten Profiling, das Informationen zu "Gefährderprofilen" zusammenführt - eine Praxis, die auf Grund der technischen Möglichkeiten nichts anderes als ein Früherkennungssystem für vermeintlich seltsames Verhalten ist.
Auch Beamten in der EU-Kommission und im juristischen Dienst des Rates dämmert inzwischen, dass die geplante Richtlinie nicht mit den Einschätzungen der höchsten Gerichte in Straßburg, Luxemburg und Karlsruhe in Einklang zu bringen sein dürfte. So fordert der Europäische Gerichtshof den Nachweis, dass jede Überwachungsmaßnahme "notwendig und verhältnismäßig" sein muss. Diesen Nachweis bleiben die Befürworter schuldig. Selbst in streng geheimen Berichten führen sie nur Einzelfälle an, die eine Fluggastdatenüberwachung angeblich notwendig machen.
Absehbare Ausweitung
Noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Es geht längst nicht mehr allein um die Überwachung des Luftverkehrs: Schon fordert die italienische Regierung eine Ausweitung der Datenerfassung auf sämtliche europäische Fährverbindungen. Es wird nicht lange dauern, bis auch die Überwachung des gesamten Zugverkehrs in Europa gefordert wird.
Kurzum: Inzwischen droht die vollständige Erfassung und Analyse von Informationen über die Bewegungen der rund 500 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger - in der Luft, zu Wasser und auf dem Lande.
Wenn sich die Europäische Kommission und die Innenministermehrheit durchsetzen, kopieren sie nicht nur die Überwachungspraktiken der USA, sondern drohen diese noch weit zu übertreffen. Die Abgeordneten im EU-Parlament sollten gemeinsam mit einer breiten kritischen Öffentlichkeit den Anfängen dieser Praxis schnell und entschieden einen Riegel vorschieben.
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