Debatte Finanzen und Klima: Wer seine Hausaufgaben macht
Es braucht strenge Umweltgesetze, um künftig im globalen Wettbewerb zu bestehen. Doch im Umgang mit der Industrie erinnert die EU an langmütige Eltern und ihre Kinder.
W enn ein Sprössling die Erziehungsregeln seiner Eltern nicht akzeptieren will, verweist er gern darauf, dass es in anderen Familien doch viel liberaler zugehe. Die Auseinandersetzung zwischen europäischen Unternehmen und den demokratisch gewählten Volksvertretern erinnert an das komplizierte Verhältnis zwischen widerspenstigen Kindern und ihren Eltern.
Wenn sie - zum Beispiel durch giftige Chemikalien, Abgase spuckende Motoren oder gesundheitsschädliche Wochenarbeitszeiten - das Gemeinwohl beeinträchtigt sehen, dann denken sich die politisch Verantwortlichen gerne Gesetze dagegen aus. Die Reaktion der Unternehmen erfolgt prompt und ist genauso vorhersehbar wie bei einem enttäuschten Teenager. Der stampft mit dem Fuß auf und schreit: "Nachbars Liesl muss doch auch keine Hausaufgaben machen! Warum dann ich?"
In der Welt der Märkte und Bilanzen spricht man natürlich etwas vornehmer von Wettbewerbsnachteilen, Standortverlagerungen oder - beim Klimapaket - von "Carbon Leakage". Die Qualität des Arguments hebt das aber nicht - und solche Auseinandersetzungen können sich lange hinziehen.
Ein Beispiel: Sieben Jahre lang stritten sich Umwelt- und Wirtschaftsminister, die EU-Kommission und das Europäische Parlament mit den Chemieunternehmen über die so genannte REACH-Verordnung. Es ging darum, die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen sämtlicher chemischer Stoffe, die sich im Produktionskreislauf befinden, endlich systematisch zu registrieren. Die betroffenen Branchen wehrten sich nach Kräften dagegen und erklärten, die REACH-Verordnung bedeute das Ende der chemischen Industrie in Europa. Inzwischen ist die Registrierung per Gesetz zur Pflicht erklärt worden - und die Industrie gesteht ein, so schlecht sei das Ganze ja gar nicht.
Aus Sicht der chemischen Betriebe droht jetzt neues Ungemach - das geplante Klimapaket. Geht es nach EU-Kommission und Parlament, sollen ab 2013 die Zertifikate für Verschmutzungsrechte nicht mehr gratis verteilt werden, sondern kostenpflichtig sein. Die betroffenen Unternehmen prophezeien - wieder einmal - das Ende der chemischen Industrie in Europa. Fachminister und Regierungschefs zeigen sich beeindruckt; zumindest ein Teil der Zertifikate soll nun doch für eine Übergangszeit gratis bleiben.
Anderes Beispiel: Seit 1995 fordert die Politik die Automobilhersteller auf, spritsparende Motoren und völlig neue Antriebe zu entwickeln. Die Branche fand Ausflüchte, erreichte Aufschub, vertröstete erneut. Nun ist die Absatzkrise, vor der Fachleute schon lange warnen, da. Und wer hat Schuld? Die Politik natürlich, sagen Autolobbyisten wie der deutsche Exverkehrsminister Matthias Wissmann. Statt auf Selbstverpflichtungen der Industrie zu bauen, hätte sie schon vor zehn Jahren klare politische Rahmenbedingungen schaffen und damit die Entwicklung zukunftstauglicher Autos fördern sollen. Doch in der jetzigen Wirtschaftslage sei Umsteuern leider, leider ganz unmöglich. Gegen ein strenges Gesetz mit kurzen Übergangsfristen wehrt sich die Autolobby vehement - und, wie es aussieht, mit Erfolg. Vater Staat, der schon vor Jahren ein Machtwort hätte sprechen müssen, wird weiterer Aufschub abgetrotzt, dazu ein langer Ausnahmekatalog und großzügige Übergangsfristen.
Wie der CO2-Verordnung für Pkws, seit Jahren verschleppt, wird es dem gesamten Gesetzespaket ergehen, mit dem ursprünglich der Klimawandel bekämpft und eine gute Basis für die internationalen Klimaverhandlungen Ende nächsten Jahres geschaffen werden sollte. Auf dem heute beginnenden EU-Gipfel wird dieses Klimapaket aufgeweicht, verwässert, vertagt.
Von der Klimakonferenz in Posen blickt man hinüber nach Brüssel und sieht, wie die gefeierten 20-Prozent-Ziele, die Ratspräsidentin Merkel im März 2007 durchsetzte, zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Denn die allzu gütigen Eltern einschließlich der Klimakanzlerin waren sich schon im Vorfeld einig, dass ihren Sprösslingen in diesen schweren Zeiten keine zusätzlichen Anstrengungen abverlangt werden können.
Was zeitweise als Innovationschance, europäisches Markenzeichen und Standortvorteil gesehen worden war, wird angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise zur Belastung umgedeutet. Dabei hat sich, auch wenn das kurzfristige Ölpreistief anderes suggeriert, an der globalen Lage nichts geändert. Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern führt in die Abhängigkeit von politisch instabilen Regimen. Darüber hinaus werden die Kosten des Klimawandels, wie von international anerkannten Ökonomen berechnet, die aktuelle Finanzkrise weit in den Schatten stellen. Die Zukunft gehört denjenigen Unternehmen, die mit weniger Energie auskommen und die Atmosphäre mit weniger CO2 und anderen Klimagasen belasten.
Die Finanzkrise selbst ist der beste Beleg dafür, dass es in die Sackgasse führt, auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes zu vertrauen. Nur ein strenger gesetzlicher Rahmen kann dafür sorgen, dass Marktkräfte nicht in eine Richtung wirken, die dem Gemeinwohl entgegensteht. Doch die regierende Klasse in Europa scheint vor der daraus erwachsenden Verantwortung zurückzuscheuen. Sie ist zwar bereit, Banken und Unternehmen finanziell herauszupauken und sie zur Not sogar zeitweise zu übernehmen, doch das finanzielle Engagement der Allgemeinheit mit Auflagen verbinden, die dem Gemeinwohl dienen könnten, will sie nicht. Marktregulierung bleibt verpönt.
Natürlich will niemand in die 70er-Jahre zurück, in denen der Staat als Unternehmer ein Heer von Beamten mit Ärmelschonermentalität verwaltete. Aber das Gegenmodell der völligen Deregulierung hat sich ebenfalls nicht bewährt. Politische Vorgaben für private Unternehmen schaffen erst die Voraussetzungen, dass Marktmechanismen wie beim Emissionshandelssystem überhaupt greifen können. Der Markt bringt nur dann das politisch gewünschte Ergebnis zustande, wenn er jenen klaren politischen Rahmen erhält, den die Unternehmerverbände zu Recht für ihre Planungssicherheit verlangen.
Dem trotzigen Protest, dass die Nachbarskinder ja auch nie zu Hausaufgaben verdonnert werden, kann die Politik mit zwei Argumenten begegnen. Zum einen muss sie daran erinnern, dass derjenige, der seine Hausaufgaben macht, im internationalen Wettbewerb besser bestehen kann als der, der in seiner Entwicklung zurückbleibt. Zum anderen sollte sie darauf verweisen, dass auch anderswo längst Hausaufgaben gemacht werden: in Japan schon heute, in den USA vielleicht schon bald.
Wenn der neue US-Präsident seine Pläne in die Tat umsetzt, könnte Umwelttechnologie demnächst zum amerikanischen Markenzeichen werden. Deshalb müssen Europas Politiker ihrer Führungsrolle endlich gerecht werden. Das Protestgeschrei, das mit Sicherheit folgen wird, müssen sie ertragen.
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