Debatte Erbe der DDR-Opposition: Aus dem Schatten Gaucks
Die Debatte über das Staatsoberhaupt in spe hat auch etwas Gutes: Sie holt ein verdrängtes Erbe der DDR-Opposition zurück ins Licht.
W ar Joachim Gauck ein Bürgerrechtler? Die Frage ist in den vergangenen Tagen mal so, mal so beantwortet worden: Frühere Oppositionelle aus der DDR erinnerten daran, dass der kommende Bundespräsident im Wendeherbst „erst später auf den fahrenden Zug“ gesprungen sei, wie es der Pfarrer Hans-Jochen Tschiche formuliert, der sich schon seit 1968 aktiv gegen das Regime der alten Männer engagierte.
Gauck sei über die Jahre zu einer „Kunstfigur aufgebaut worden“, meint Heiko Lietz, Mitgründer des Neuen Forums. Andere sind dem Rostocker beigesprungen: Gustav Seibt etwa, der in der Süddeutschen Zeitung davor warnte, „ihn rückwirkend aus der DDR-Opposition auszuschließen“. Oder Ilko-Sascha Kowalczuk, der in der taz den „ganzen 89er“ gegen jene Kritiker verteidigte, „die mutig gegen die SED-Diktatur kämpften, aber mit den einstigen Herrschern den Traum vom irdischen Paradies teilten“.
Das klingt ein bisschen, als gehörten Bärbel Bohley und Egon Krenz in einen Topf. Wirklich? Richtig an Kowalczuks Hinweis ist hingegen: Die Wende war mehr als das, was von ihr heute im öffentlichen Erinnern geblieben ist – vom 3. Oktober 1990 her betrachtet, also vom Ende der Geschichte, verschwanden jene Träume aus dem Blick, welche die Wende einst trugen.
Schon vor ein paar Jahren hat Thomas Klein, sozialistischer Bürgerrechtler und Mitgründer der Vereinigten Linken, von einer „Ex-post-Charakterisierung“ der DDR-Opposition „nach Maßgabe des heute dominierenden politischen Wertesystems“ gesprochen: „Abgekoppelt von ihrer Entwicklungsgeschichte wird der vormalige ’Charakter der DDR-Opposition‘ aus der Vereinbarkeit gewisser damaliger Ziele mit den heutigen deutschen Verhältnissen bestimmt.“
Was wollte die Opposition?
Man denkt unweigerlich an Gauck, der das Symbol eines politisch klar verorteten Teils der Vergangenheit ist: Er steht für die bürgerlich-freiheitlichen Motive der Wende sowie den nationalen Zug in Richtung Wiedervereinigung und personifizierte als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen eine auf das Mielke-Erbe verengte DDR-Betrachtung.
Tom Strohschneider ist Historiker und Redakteur im Meinungsressort der taz. Auf seinem Blog "Lafontaines Linke" verfolgt er kritisch die Entwicklungen in der Partei. www.lafontaines-linke.de .
Doch im Herbst 1989 ging es anfangs keineswegs nur, ja nicht einmal vor allem um „ein Volk“, den Sturm auf die Akten der Staatssicherheit und Reisefreiheit. Ein großer Teil der kleinen aktiven Opposition hatte sich mehr auf die Fahnen geschrieben: einen Dritten Weg, ökologischen Umbau, mehr Mitbestimmung im Staat.
Die Bewegung „Demokratie Jetzt“ etwa hoffte auf „eine solidarische Gesellschaft (…) in der soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde für alle gewährt sind“. Es wurde mit rätedemokratischen Ideen experimentiert, es wurden neue Wirtschaftsmodelle und rechtspolitische Alternativen erdacht.
Hoffnungen auch im Westen
„Die Geschichte ist offen“, „Wider den Schlaf der Vernunft“ – die Titel der Sammelbände mit Texten zur Wende, die in den Wintermonaten 1989/1990 in beträchtlicher Zahl erschienen sind, stehen für diese historische Offenheit und das utopische Moment. Das zog übrigens nicht nur ein paar ostdeutsche „Träumer“ an, sondern auch westdeutsche Linke in seinen Bann.
Hans-Christian Ströbele zum Beispiel forderte seinerzeit als „erste Konsequenz“ aus den Umwälzungen in der DDR „Abrüstung und Nulllösung beim Verfassungsschutz“ – noch heute höchst aktuell angesichts der Debatte um die Pannen bei der Verfolgung der Mörderbande NSU. Robert Jungk setzte damals angesichts der Wende im Osten für den Westen Forderungen nach mehr Demokratie und Transparenz neu auf die Agenda, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben.
Natürlich: Irgendwann in jenen Monaten setze sich in der DDR eine realpolitische Kraft des Faktischen durch, die einerseits angetrieben wurde vom westdeutschen Politikbetrieb und den Interessen der Wirtschaft und die andererseits den Forderungen der ostdeutschen „Volksbewegung“ nach D-Mark und Einheit entsprach, die keineswegs mit denen der Opposition identisch waren.
Diese Kluft war eines der großen Probleme, und im Rückblick mag es naiv erscheinen, was trotz dieser Dynamik, ja gegen sie damals gedacht und diskutiert wurde. Wenn diese Spuren heute weitgehend aus dem öffentlichen Erinnern verdrängt sind, dann hat das einen Grund: Auf einem reformsozialistischen „Umbaupapier“, dem linken Aufbruch in den Betrieben oder der Debatte über eine neue, ganz andere Verfassung konnte und wollte das neue Deutschland keine Tradition begründen.
Das Schicksal der Türöffner
„Wir waren die Türöffner, andere aber haben die Politik gemacht“, sagt Pfarrer Tschiche 22 Jahre danach. Und meint damit auch Gauck. Als der damals die Bühne betrat, begann der politische Frühling bereits in den Bahnen des Machbaren, des Realistischen zu erfrieren. Ende Januar 1990 gehörte Gauck im Neuen Forum zu den ersten, die für die Wiedervereinigung plädierten – damals von Mitstreitern als tiefer Bruch empfunden. Als Abgeordneter der im März 1990 gewählten Volkskammer stimmte er dem Einigungsvertrag zu – gegen die Mehrheitslinie der Bürgerrechtler.
Der Historiker Martin Sabrow hat über jene bis heute dominierende Erzählung der Revolution gesagt, sie betone vor allem das „Pathos einer nationalen Freiheits- und Einheitsbewegung“. Dieses Pathos hat in Gauck ein lebendes Denkmal gefunden. Ob zu Recht oder nicht, wird Gegenstand von Kontroversen bleiben, auch von Streit, in dem Eitelkeiten und alte Rechnungen eine Rolle spielen.
Das ändert aber nichts daran, dass der Bundespräsident in spe nur einen Teil der Geschichte repräsentiert und dass gerade er dies auch auf eine Weise tat, bei der anderes im Schatten verschwand. Schon 1999 haben sich Bürgerrechtler in einem offenen Brief an Gauck dessen Behauptung verbeten, in Deutschland sei „erreicht, wofür damals die Opposition in der DDR und die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 gekämpft haben“.
Das gilt heute noch, und wieder erheben frühere Oppositionelle ihre Stimme. Die Debatte über den künftigen Präsidenten hilft dabei, einer verdrängten Tradition der DDR-Opposition einen angemessenen Platz im öffentlichen Erinnern zu geben: Die Wende war mehr als Gauck, und sie begann links von ihm.
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