Debatte Energiewende: Die Zukunft beginnt jetzt
Welche Energiewende wollen wir? Die vier entscheidenden Streitfragen müssen schleunigst diskutiert werden. Sonst drohen Preisanstiege und Stromausfälle.
S treitfrage 1: Zentral oder dezentral? Über 80 Prozent der Erzeugungskapazitäten in konventionellen Großkraftwerken sind in der Hand von vier großen Energiekonzernen. Das Geschäft mit der Erzeugung erneuerbarer Energie in dezentralen Anlagen beherrschen sie nicht. Hier liegt ihr Marktanteil unter 20 Prozent. Die Konzerne haben Interesse, auch die erneuerbaren Energien künftig in Großkraftwerken zu transformieren.
Dieses Interesse ist die beste Erklärung für die immer wiederkehrenden Versuche, die Stromerzeugung durch Sonne und Wind in Kleinanlagen zu begrenzen und Offshore-Großprojekte stärker zu fördern. Ökonomisch gibt es dafür keinen Grund.
Strom aus Fotovoltaik ist mit Erzeugungskosten von rund 20 Cent pro kWh etwa gleich teuer wie Strom von der Hochsee, wenn man die Kosten der Tiefseekabel für den Stromtransport einrechnet. Und Strom aus Windkraftanlagen an Land ist heute und in Zukunft nur halb so teuer wie Strom aus Hochseewindparks.
Boris Palmer ist Oberbürgermeister von Tübingen, Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke Tübingen und Mitglied des Grünen Parteirats.
Franz Untersteller ist seit 2006 Abgeordneter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg. Seit 100 Tagen ist er dort nun Umweltminister.
Wenn die Bundesregierung dennoch die Förderung der Fotovoltaik und der Windkraft an Land drastisch kürzt, um gleichzeitig die Vergütung für Offshore-Windparks deutlich zu erhöhen, ist das volkswirtschaftlich unvernünftig. Die Profiteure sind allein die großen Konzerne, denn einzelne Stadtwerke oder Bürgerenergiegesellschaften können Investitionen von bis zu 2 Milliarden Euro für einen Hochseewindpark nicht stemmen.
Streitfrage 2: Welche Speicher? Im Wesentlichen stehen drei Optionen zur Wahl: Pumpspeicherkraftwerke, Batteriespeicher und Erdgasspeicher. Pumpspeicherkraftwerke sind besonders im Alpenraum seit mehr als 100 Jahren etabliert, aber in der Kapazität sehr begrenzt. Benötigt wird voraussichtlich eine Speicherkapazität für mehrere Wochen des deutschen Stromverbrauchs. Pumpspeicher decken davon nur einige Stunden ab. In Skandinavien steht schon heute ein Speichervolumen in Stauseen zur Verfügung, das einen Großteil des kurzfristigen europäischen Speicherenergiebedarfs decken könnte. Allerdings fehlt in der Regel das Unterbecken und für den Transport der Energie bräuchte es gigantische Netze.
Batteriespeicher sind derzeit wegen des Aufschwungs der Elektromobilität in aller Munde. Die Batterien für Elektroautos sind aber noch sehr teuer, und für den Einsatz als Speicher müsste das gesamte Mittelspannungsnetz neu aufgebaut werden, weil die Leistungsfähigkeit von Transformatoren und Leitungen für derartige Belastungen bei weitem nicht ausreicht.
Der jüngste Vorschlag mit Aussicht auf zügige Realisierung setzt auf die vorhandenen Erdgaskavernenspeicher in Deutschland. Deren Fassungsvermögen ist so groß, dass tatsächlich der gesamte Speicherenergiebedarf des deutschen Stromnetzes abgedeckt werden könnte. Zur Stromerzeugung können hocheffiziente Gaskraftwerke und kleine Blockheizkraftwerke eingesetzt werden.
Um überschüssige erneuerbare Energie einzuspeichern, steht grundsätzlich der Prozess der Wasserstoff-Elektrolyse zur Verfügung. Der Wasserstoff kann, ohne eine gesonderte Infrastruktur zu erfordern, bis zu einem Anteil von 10 Prozent direkt dem Erdgas beigemischt werden, erst darüber hinaus wird es erforderlich sein, zur Methanisierungstechnologie zu greifen, bei der mit Strom CO2 und Wasser in Erdgas (Methan) umgewandelt wird. Im großtechnischen Maßstab muss dies allerdings noch realisiert werden. Zu prüfen ist jedoch auch, ob nicht mit bekannten Verfahren wie der kombinierten Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung, Wärmespeichern und Wärmepumpen kosteneffiziente Speichertechnologien entwickelt werden können.
Die Lösung der Speicherfrage ist dringend. Einen Königsweg gibt es nicht. Pumpspeicherwerke wie im Schwarzwald sind leichter durchsetzbar, wenn die Alternativen in Skandinavien oder im Erdgasnetz geprüft und als nicht ausreichend oder als derzeit unwirtschaftlich erkannt sind.
Streitfrage 3: Welche Brücken? Da die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien noch Zeit braucht, benötigen wir Brückentechnologien. Relevante Kräfte in Union und SPD setzen wieder verstärkt auf Kohlekraftwerke. Diese können den Regelenergiebedarf jedoch nur eingeschränkt abdecken und sind zudem teurer als Gaskraftwerke.
Für die Grünen sind hocheffiziente Erdgaskraftwerke derzeit die einzige akzeptable fossile Brücke zu den erneuerbaren Energien. Allerdings ist selbst deren Bau wirtschaftlich kaum attraktiv, weil sie nicht genügend Jahresbetriebsstunden erreichen.
Streitfrage 4: Welche Leitungen? Der sinnvolle Ausbau der Stromnetze setzt Entscheidungen über die Technik und die Standorte von Brückenkraftwerken und Speichern voraus. Wenn skandinavische Speicher und Strom aus der afrikanischen Wüste eine großtechnische Lösung im interkontinentalen Maßstab liefern sollen, dann werden Hochspannungsübertragungsleitungen quer durch Europa und Deutschland erforderlich. Wenn dezentrale Erzeugungsstrukturen und dezentrale Speicher in Verbindung mit dem Erdgasnetz zur Bereitstellung von Regelenergie die Zukunft sind, spielen derartige Investitionen eine zumindest geringere Rolle. Wer in Deutschland Leitungen bauen will, muss Bürgerinitiativen erklären können, welche Struktur der zukunftsweisenden Energieversorgung diese erforderlich macht. Das Stuttgarter Umweltministerium wird im Herbst Regionalkonferenzen zur Energiewende und zu der Frage durchführen, wie man mehr Windenergie mit regionaler Wertschöpfung verknüpfen kann.
Erstaunlicherweise ist diese Debatte aus der Fachwelt gerade erst dabei, die Politik und die Öffentlichkeit zu erreichen. Dabei steht viel auf dem Spiel! Wird die Energiewende falsch angepackt, drohen längere Stromausfälle oder extreme Preisanstiege. Verfolgen wir hingegen eine finanziell und ökologisch optimierte Umbaustrategie für eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien, können wir Deutschland große wirtschaftliche Vorteile sichern: Unabhängigkeit von Energieimporten, günstige Strompreise und einen Vorsprung für die Industrie, die neue Technologien für die erneuerbare Vollversorgung entwickelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“