Debatte "Deutscher Sonderweg": Wie anders ist Deutschland?
Kritik an Militarismus und Atomkraft ist keine deutsche Marotte. Die Rede vom "deutschen Sonderweg" wird dazu benutzt, sie zu denunzieren.
F rüher griffen intellektuelle Spießer gleich zur Pistole, wenn sie mit etwas konfrontiert wurden, was ihrer Auffassung von "Normalität" und "Konformität" widersprach. Der heutige intellektuelle Spießer ist friedlicher. Er kanzelt Kritik am Status quo nur noch als "naives Gutmenschentum", "politische Korrektheit" oder "Moralismus" ab. In den Debatten um den Krieg in Libyen, die Erschießung bin Ladens oder über den Ausstieg aus der Kernenergie gesellt sich zu diesen Parolen nun die biedersinnige Warnung, bloß keinen "deutschen Sonderweg" einzuschlagen.
Die These vom "deutschen Sonderweg" stammt eigentlich aus der kritischen Geschichtswissenschaft. Diese verabschiedete nach 1968 die alten, naiven Erzählungen von Staaten und Mächten, von Schlachten und Helden sowie dynastischem Firlefanz und stellte die Geschichtswissenschaft auf ein neues, sozialwissenschaftliches Fundament. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler verstand unter dem "deutschen Sonderweg" den Konflikt zwischen halbfeudalem Obrigkeitsstaat und Rechtsstaat nach 1871.
Nationalismus, Militarismus und Demokratieverachtung bildeten den Kern dessen, was mit Blick auf das Kaiserreich als "deutscher Sonderweg" bezeichnet wurde. Dazu passte, dass sich deutsche Professoren zum Beginn des Ersten Weltkriegs bemüht hatten, das Besondere des Deutschtums zu akzentuieren. 3.000 Gelehrte bekannten sich damals in einem Aufruf dazu, dass es in diesem Krieg um einen Kampf der "Ideen von 1914" gegen die "Ideen von 1789" (Johann Plenge), also um einen Kampf zwischen Deutschtum und Romanismus, zwischen "Kultur" und "Zivilisation" gehe.
Eine Linie von Luther zu Hitler?
In der Zeit der Weimarer Republik bestand der "Sonderweg" darin, dass diese Republik fast ohne Republikaner entstand. Der nationalsozialistische "Sonderweg" wiederum beruhte auf der Idee, eine antikapitalistische, antidemokratische und ethnisch homogenisierte "deutsche Volksgemeinschaft" und einen rein deutschen "Sozialismus" zu schaffen. Einer bizarren Variante der "Sonderweg"-These wiederum haben sich jene verschrieben, die sich die deutsche Geschichte als gerade Linie von Luther zu Hitler vorstellen, die im Wesentlichen auf dem Antisemitismus beruhe.
Dabei haben Wehler und andere Historiker ihre These vom Sonderweg des Kaiserreiches im Laufe der Jahre nuanciert und korrigiert. Denn eine Voraussetzung der These war unhaltbar: Wer vom Sonderweg redet, muss eine Norm unterstellen. Die gibt es jedoch nicht - oder nur in den Köpfen der Geschichtsphilosophen. Geschichte aber verläuft nicht nach Fahrplänen, und die Historie jedes Landes weist ihre Besonderheiten sowie Parallelen zur Geschichte anderer Länder auf. Mit anderen Worten: Jeder Staat hat seinen "Sonderweg".
Kriegsbeteiligung als Norm
In den politischen Debatten von heute ist die Rede vom "Sonderweg" jedoch ein billiges rhetorisches Mittel, um politische Gegner zu denunzieren, indem man sie in die Nähe unseliger Traditionen rückt. Wer etwa mit Blick auf das deutsche "Nein" zum Krieg in Libyen vor einem "deutschen Sonderweg" warnt, der meint damit nichts anderes, als dass die Beteiligung an diesem Krieg "normal" sein müsse. Aber nicht nur Angela Merkel und Guido Westerwelle, sondern viele pensionierte Nato-Generäle und andere Experten sagen, was jeder Leutnant weiß: auf Grundlage der UN-Resolution 1973 sind die erklärten Kriegsziele nicht zu erreichen - oder nur durch expliziten Bruch mit den Normen.
Rudolf Walther ist Publizist. Zusammen mit Martin Halter und Werner Bartens verfasste er das Buch "Letztes Lexikon" (Eichborn), für das die Autoren 38 deutsche Lexika aus 300 Jahren sichteten.
Wer völkerrechtliche Normen achtet, der bewegt sich nicht im "Geisterreich der Moral", wie Adam Soboczynski jüngst meinte (in der Zeit). Er behandelt Völkerrecht und Verfassung lediglich nicht als reine Papierfetzen. Genau das tut aber Josef Joffe, wenn er (ebenfalls in der Zeit) mit Blick auf die Tötung bin Ladens die rhetorische Frage stellt, was denn das größere Übel sei - "einen Mann weiter morden zu lassen (…) oder im Ernstfall die Regeln des Rechtsstaates zu verletzen". Als ob das die Alternative wäre?!
Auch bei der breiten Ablehnung der Stromerzeugung durch Atomkraftwerke und der Forderung nach einem raschen Ausstieg aus dieser nicht beherrschbaren Zombie-Technologie handelt es sich weder um "einen deutschen Reflex" noch um einen "Sonderweg". Die Protestbewegungen gegen Atomkraftwerke entstanden in den Siebzigerjahren in den USA und in Frankreich und erfassten, unterschiedlich stark, die ganze Welt. Der hilflose Versuch, den Protest als Rückfall in die Vergangenheit und als deutsche Marotte abzutun, verrät nur abgestandene Ressentiments gegen Menschen auf der ganzen Welt, die sich nicht gemütlich einrichten wollen im vermeintlich Normalen.
Deutsches Ideologie-Repertoire
Sicher geht die deutsche Haltung zum Libyen-Krieg und zur "friedlichen" Nutzung der Kernenergie auch auf die Erfahrungen aus der deutschen Geschichte zurück. Und dass Menschen in Frankreich, Großbritannien und in den USA auf Krieg und AKW-Unfälle anders reagieren, hat mit deren kolonialer und imperialer Geschichte zu tun. Die meisten Deutschen haben ihre koloniale und imperiale Erbschaft nach den Niederlagen von 1918 und 1945 definitiv verabschiedet, das mag ihren Pazifismus zum Teil erklären.
Dass ihre westlichen Verbündeten ihr koloniales Erbe nun mit Anleihen aus dem kerndeutschen Ideologie-Repertoire bewirtschaften, ist eine Ironie der Geschichte. Heute bombardieren sie andere Länder angeblich aus rein "realpolitischen" Gründen und "nur" aus der "Verantwortung, Zivilisten zu schützen".
Das Wort "Realpolitik" erfand August Ludwig von Rochau 1853. Es läutete für große Teile des deutschen Bürgertums den Abschied von Freiheit und Demokratie ein. Der Bourgeois wurde unter Bismarck nun "realpolitisch", also nationalistisch, antidemokratisch und obrigkeitshörig. Diese "Realpolitik" kulminierte im Krieg von 1914.
Der Soziologe Max Weber, der 1914 noch den "heiligen Volkskrieg" beschwor, zog nach dem Scheitern der "Realpolitik" 1919 das Gesinnungsgemisch "Verantwortungsethik" vor. Auch dieser Begriff taugt heute aber nur noch dazu, Blut mit Wasser zu verdünnen.
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