Debatte Bildungsgipfel: Wo die klugen Kinder lernen

Der Bildungsgipfel von Dresden hat gezeigt: Auf eine Bildungsreform von oben braucht niemand zu hoffen. Die Initiative muss aus der Gesellschaft selbst kommen.

Der Bildungsgipfel in Dresden war tatsächlich der Gipfel - der Gipfel der Verantwortungslosigkeit. Eindrucksvoller hätten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer nicht zeigen können, dass der föderale Staat mit der Bildungskrise hoffnungslos überfordert ist. Selbst der prominenteste Dresdner Beschluss, dem maroden Bildungswesen eine dringende Finanzspritze zu verpassen, wurde in eine Kommission verlagert. Auf höchster Ebene zeigte sich damit, was Eltern, Betroffene und Bürger täglich vor Ort erleiden: Wie sich diverse Schulaufsichten gegenseitig die Schuld für stinkende Schulklos, ausfallenden Unterricht oder fehlende Tafelkreide zuschieben. Alle wollen irgendwie zuständig sein - aber keiner verantwortlich.

Der Soziologe Ulrich Beck nannte das einst "organisierte Verantwortungslosigkeit". Nirgens passt dieser Begriff besser als im Lehranstaltsunwesen. Für das Land ist das eine bittere Botschaft. Sie lautet: Die Lehrplanschulen bleiben so schlecht, wie sie sind, vergeuden systematisch Talente und produzieren immer mehr Bildungsverlierer: Migranten, gehandicapte Kinder sowie Schüler, die aufgrund ihrer kulturellen oder sozialen Herkunft benachteiligt sind.

Viele betrachten das Scheitern des Gipfels als business as usual. Seit Helmut Kohl sei das schließlich so gegangen. Aber das ist eine Fehleinschätzung. Diesmal trifft die Kanzlerin die wenigste Schuld, denn Angela Merkel ist die erste maßgebliche Person aus der Union, die mit der Forderung nach "Bildung für alle" eine Bildungskrise überhaupt eingestanden hat. Sie hat begriffen, dass sich der Sozialstaat in Zeiten der globalen Wissensgesellschaften nicht mehr selbst genügen kann. Wohlstand und soziale Sicherheit lassen sich nicht mehr allein durch den Bismarckschen Versicherungsstaat gewähren. Es braucht einen maximalen Output an Hochqualifizierten, ein ganz neues Lernen und Chancen für jedes Kind - ganz egal, wie dick der Geldbeutel oder wie hoch der Bücherschrank der Eltern ist.

Den Ministerpräsidenten aber ist die Bildungsrepublik egal. Sie haben Merkel allen Ernstes vorgeworfen, dass sie "Bildung für alle" will. Das ist kein Wunder, denn die Leistungsbilanz der Länder in der Bildungspolitik ist geradezu katastrophal. Vor sieben Jahren bekamen sie mit der ersten Pisastudie quasi eine Bankrotterklärung ausgestellt. Was haben sie seitdem zustande gebracht? Wenig. Es gibt keinen systematischen Ansatz, das Kardinalproblem des Schulwesens anzugehen - dass Bildungsarmut hierzulande vererbt wird.

"Der schiefe Turm von Pisa ist unten schief, nicht oben." So unnachahmlich fasste einst der Fußballtrainer Christoph Daum die komplizierten Pisastudien zusammen. Die wichtigste Schulreform seitdem aber haben die Länder nicht unten, sondern oben unternommen: im Gymnasium die Einführung des Turboabiturs. Sie wird als eine der fatalsten Deformierungen in die Geschichte eingehen. Denn sie presste lediglich die Schulzeit bis zum Abi von neun auf acht Jahre, ohne den Lernstoff zu reduzieren. Verkehrte Welt. Die Pisastudien wiesen nach, dass Haupt- und Sonderschulen für Kinder unwürdig und für das 21. Jahrhundert untauglich sind. Aber die Länder erhöhen den Druck auf die Pennäler, anstatt den Risikoschülern zu helfen.

Die einzig substanzielle Reform seit dem Pisa-Schock kam vom Bund - es sind die Ganztagsschulen. Sie befreien die Bundesrepublik aus der historischen Gefangenschaft in der Halbtagsschule des 19. Jahrhunderts, obendrein traten sie einen kleinen Bauboom los. Die Länder aber haben diese Reform lange verzögert und verhindert. Sie schrieben vor lauter Wut sogar einen neuen Grundsatz in die Verfassung, der es dem Bund verbot, sich in Schulfragen einzumischen. Das bedeutet, dass die Bundesrepublik auf ihrem wichtigsten Zukunftsfeld quasi modernisierungsresistent gemacht wurde. Der Bund ist in der Bildung de jure handlungsunfähig - die Länder sind es de facto.

Auf eine sinnvolle Bildungsreform von oben braucht also niemand hoffen. Die Gesellschaft muss sie selbst in die Hand nehmen. Und das hat ja tatsächlich schon begonnen. Es gibt die ersten schlauen Schulen, die ein völlig neues Lernen für das 21. Jahrhundert praktizieren. Der Startschuss für diese Schulen ist sehr oft auf die hypertrophe Schulaufsicht bezogen - wenn auch negativ. Leiter schlauer Schulen antworten ihren staunenden Besuchern auf die Frage "Wieso geht das bei ihnen und nicht bei allen?" gern so: Das darf ich nicht verraten, weil es gegen die Regel ist!

Es klingt absurd, aber es ist so. Richtig gut funktionierende Schulen verstoßen alle irgendwo gegen das Gesetz: Weil sie die Stundentafel verändern, den Lehrplan kreativ interpretieren oder zum Beispiel Wände herausreißen. Solcher ziviler Ungehorsam geschieht übrigens häufig unter augenzwinkerndem Einverständnis der Kultusbürokratie. Und dieses Augenzwinkern wurde vielerorts sogar schon formalisiert. Es heißt "Schulversuch" oder "Versuchsschule", wenn eine staatliche Schule mal eine gute Schule sein will - und zu diesem Zweck von allerlei Vorschriften befreit wird.

Aber die treibenden Kräfte kommen nicht vom Staat, sondern von Schulneudenkern. Sie haben sich in Netzwerken so weit ausdifferenziert, dass man in Umrissen ein alternatives Schulsystem entdecken kann. Sein Grundprinzip heißt, die Lehrplanschule durch die Kein-Kind-bleibt-zurück-Schule zu ersetzen. Statt Unterricht zu geben, üben sie dort selbständiges Lernen ein. Statt Schüler auszusortieren, fragen sie: Wo stehst du, wie können wir dir helfen?

Es ist eine Art Lernen-kann-Spaß-machen-Community entstanden. Dazu gehört etwa das "Archiv der Zukunft" des Filmemachers Reinhard Kahl, ein Sammelbecken von Lernveränderern aller Professionen. Ähnlich ausgerichtet, nur praktischer ist die Dachorganisation der schlauen Schulen namens "Blick über den Zaun". Sie organisiert Besuche durch kritische Freunde - namentlich durch Lehrer oder internationale Schulforscher, die dem neuen Lernen aufgeschlossen gegenüberstehen, aber gleichwohl Tacheles reden.

Eine ähnliche Funktion erfüllen zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Bosch-Stiftung oder die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung. Sie organisieren Geld und Know-how für beispielhafte Projekte. Und sie promoten die neue Lernkultur in der Öffentlichkeit, zum Beispiel durch den "Deutschen Schulpreis". Er hat der pisageplagten Nation die Augen dafür geöffnet, dass es auch hier exzellente Schulen gibt.

Alle diese Initiativen haben eines gemeinsam. Sie erwarten vom Staat wenig. Eigentlich nur, dass er sich möglichst heraushält mit Zentralabituren, Kopfnoten, neuen Schulfächern oder ähnlichem Unsinn.

Solche Schulen sind, das ist klar, nur punktuelle Best-practice-Modelle. Aber anders geht es nicht. Merkels Bildungs-Big-Bang wird es nicht geben. Schlaue Schulen wachsen von unten. Oder gar nicht.

CHRISTIAN FÜLLER

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