Debatte Agenda 2010: Reform der Reform
Die Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagenturen und Kommunen muss endlich neu geregelt werden. Doch die Regierung lässt sich Zeit damit.
W ährend das Bundesarbeitsministerium noch mit der Neubesetzung seines Spitzenpersonals beschäftigt ist, führt uns das Statistische Bundesamt einmal mehr vor Augen, wie dramatisch die Niedriglohnsektoren und die Armut in Deutschland zunehmen. In den vergangenen zehn Jahren sind 1,4 Millionen Vollzeitjobs verloren gegangen. Gleichzeitig hat die Zahl der Teilzeittätigkeiten um 36 Prozent zugenommen, und die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind bereits wieder auf über 7 Millionen angestiegen.
Im Detail ist das Bild noch düsterer. Denn zwei Drittel der 400-Euro-Jobber sind Frauen, die aus dieser Armutsfalle meist nicht mehr herauskommen und "nahtlos" in die Armutsrente übergleiten. Von den inzwischen über 1,3 Millionen "Aufstockern" - also Geringverdiener, die zusätzlich Hartz IV beziehen müssen, um leben zu können - haben beinahe zwei Drittel einen solchen 400-Euro-Job. Auch der explosionsartige Anstieg der Leiharbeit, der nach der gesetzlichen Deregulierung 2003 einsetzte, hat zu dieser Verarmung beigetragen; diese Beschäftigten sind in der Krise zudem überdurchschnittlich vom Risiko der Arbeitslosigkeit betroffen.
Und 2010? Nichts deutet darauf hin, dass der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in Deutschland endlich Einhalt geboten wird. Diese Entwicklung wird noch verschärft durch den Rückgang der Arbeitszeiten in der weltweiten Beschäftigungskrise. Der Abbau von Überstunden sowie die erleichterte und geförderte Kurzarbeit konnten zwar einen größeren Anstieg der offenen Arbeitslosigkeit verhindern. Sie haben aber zu einem schmerzlichen Rückgang der Arbeitsentgelte im vergangenen Jahr um über 6 Prozent geführt - mit besonders negativen Auswirkungen für die Beschäftigten in den exportorientierten Branchen und Unternehmen.
Hinzu kommt: Im letzten Jahr verfügte das Bundesverfassungsgericht zwar, dass die Betreuung Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsgemeinschaften (ARGen) aus Arbeitsagenturen und Kommunen verfassungswidrig ist und neu geregelt werden muss. Der ehemalige SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz legte im Auftrag der Bundeskanzlerin einen Gesetzentwurf vor, der von den Arbeits- und Sozialministern einvernehmlich unterstützt wurde. Er sah die Schaffung einer neuen Mischverwaltung zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und den Kommunen vor, das Grundgesetz sollte entsprechend geändert werden. Doch die Unionsfraktion im Bundestag blockierte das Gesetz: mit diesem Paukenschlag begann 2009 der Wahlkampf.
Bis heute lässt sich die Bundesregierung Zeit, das drängende Problem zu lösen. Leidtragende sind die etwa 7 Millionen Hartz-IV-Empfänger und die rund 50.000 Beschäftigten in den Jobcentern. Nur in wenigen Fällen gelingt es, Langzeitarbeitslose in den Ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Die Flut von Widersprüchen und Klagen vor den Sozialgerichten gegen fehlerhafte Bescheide zeigen die gravierenden Mängel in den Jobcentern, wo die Bundesanstalt für Arbeit und die Kommunen ohne gesetzliche Klärung ihrer jeweiligen Verantwortlichkeiten zusammenarbeiten müssen.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen legte bereits kurz nach ihrem Amtsantritt einen Vorschlag ihres Amtsvorgängers Franz Josef Jung in veränderter Form vor. Danach sollten die Aufgaben der Kommunen und der Arbeitsagenturen zukünftig wieder getrennt werden - so, wie es das Bundesverfassungsgericht vorsieht und die Koalitionsvereinbarung verlangt. Grundsätzlich sollen die Arbeitsagenturen für die Gewährung von Arbeitslosengeld II und die Eingliederungsmaßnahmen verantwortlich bleiben - die Kommunen sollen sich um die begleitenden sozialen Hilfen sowie um Unterkunft und Hilfe zum Lebensunterhalt kümmern. Allerdings bleibt es das Geheimnis der Bundesarbeitsministerin, wieso die Zusammenarbeit der beiden höchst unterschiedlichen Behörden auf freiwilliger Basis funktionieren soll, wo dies schon mit gesetzlicher Verpflichtung zuvor oft nicht gelungen ist. Daran dürfte auch nicht viel ändern, dass die Bundesarbeitsministerin bei Konflikten zwischen Arbeitsagenturen und Kommunen, ob Hilfsbedürftige als erwerbsfähig einzustufen sind oder nicht, die gesetzliche Krankenversicherung einschalten will.
Dem hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch war es bereits im Vermittlungsverfahren zum Hartz-IV-Gesetz von 2005 gelungen, bei der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagenturen und Kommunen Sand in das Getriebe zu streuen. Dabei ließ Koch keinen Zweifel daran, dass er tief beeindruckt von seinen Besuchen im US-Bundesstaat Wisconsin war: Dort werden Arbeitslose auf kommunaler Ebene mit massivem Druck zu öffentlichen Arbeiten gezwungen. So setzte er damals neben den "Arbeitsgemeinschaften" von Arbeitsagenturen und Kommunen 69 "Optionskommunen" durch: Sie übernehmen die Betreuung von Hartz-IV-Beziehern in alleiniger Verantwortung und erhalten dafür vom Bund die gesamten finanziellen Mittel. Für Landkreise mit wenigen Langzeitarbeitslosen mag das durchaus eine lohnende Aufgabe sein. Umgekehrt verhält es sich bei den Städten und Gemeinden mit hoher Langzeitarbeitslosigkeit. So hat sich etwa der Deutsche Städtetag hinter die Arbeitsgemeinschaften gestellt. Auch dies kennzeichnet die vertrackte Gemengelage der Interessen bei der Betreuung Langzeitarbeitsloser.
Die bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen dürfen nicht erneut dazu führen, dass eine verfassungsfeste Lösung mit klaren Verantwortlichkeiten der beiden Behörden verhindert wird. Nötig ist eine gesetzlich geregelte Zusammenarbeit, bei der die Kompetenzen eindeutig geklärt sind und eine Eingliederung in existenzsichernde Arbeit oberste Priorität besitzt. Die Millionen von Betroffenen, deren Zahl in der Beschäftigungskrise wieder steigen wird, dürfen nicht zwischen verschiedenen Behörden hin und her geschoben werden. Damit würde die Hartz-IV-Reform, die größte Sozialreform der Bundesrepublik Deutschland, endgültig ad absurdum geführt. Hier ist die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin gefragt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!