Debatte Ägypten: Die Islamisten sind gespalten
Dem Land am Nil drohen keine iranischen Verhältnisse. Das Ausland sollte die sich neu formierende politische Landschaft lieber genau betrachten.
![](https://taz.de/picture/237301/14/FraumitGaszylinder.jpg)
Die Islamisten übernehmen die Macht am Nil" - der Aufschrei nach dem Bekanntwerden der ersten Ergebnisse der Parlamentswahlen in Ägypten war groß. Die "demokratischen Kräfte" waren nur die nützlichen Idioten, die sich "geopfert haben", doch "die Revolution wird von den Islamisten gekapert", so wird moniert.
Tatsächlich formiert sich die politische Landschaft nach drei Jahrzehnten Mubarak-Diktatur vollkommen neu. Noch liegen vier Wahlrunden in unterschiedlichen Gebieten den Landes vor uns, bis das endgültige Ergebnis Mitte Januar bekannt sein wird. Aber der Trend ist mehr als deutlich: Erwartungsgemäß übernahm die seit 80 Jahren in Ägypten agierende Muslimbruderschaft in Form der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) nach inoffiziellen Ergebnissen bisher mit 49 Prozent die solide Führung.
Überraschend ist mit 20 Prozent das unglaublich starke Abschneiden der Salafisten, einer Gruppe radikaler Islamisten, die sich erst in den letzten vier Monaten als Partei Al-Nur formiert hatten. Hier zeigt sich, dass sich die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, als eines der größten Probleme des Arabischen Frühlings erweisen.
ist seit 1990 Nahostkorrespondent der taz. Im September erschien von ihm "Tagebuch der arabischen Revolution" (Kremayr & Scheriau). In seinem Blog auf taz.de verfolgt er die Geschehnisse rund um den Tahrirplatz.
Demokratisierungsprozesse sabotieren
Mit ihrer finanziellen Unterstützung der Salafisten haben sich die Herrscher am Golf ein Instrument geschaffen, um den Demokratisierungsprozess in der Region zu sabotieren. Knapp gefolgt werden die Salafisten laut bisherigem Wahlergebnis vom liberalen Ägyptischen Bündnis, das zusammen mit anderen liberalen und linken Gruppierungen und ein paar Überresten des alten Regimes den Rest der Sitze unter sich aufteilt. Die Tahrir-Jugend konnte - praktisch ohne jegliche finanzielle Mittel - mit ihrem Bündnis "Die Revolution geht weiter" bisher nur 3 Prozent erreichen.
Damit sind drei politische Lager entstanden: die moderaten Muslimbrüder, die radikalislamischen Salafisten und ein in mehrere Parteien und Bündnisse aufgeteiltes liberales, linkes und säkularistisches Lager.
Rein rechnerisch hätte der religiöse Flügel die Mehrheit im Land. Praktisch gesehen sind sie aber Konkurrenten, was das "richtige" Islamkonzept in der Politik angeht. Während die Muslimbruderschaft über das türkische Politikkonzept der AKP und Erdogan als Vorbild diskutiert, schwebt den Salafisten die saudische Variante vor.
Die entscheidende Frage für den politischen Neustart Ägyptens wird nun sein, in welchem Lager sich die Muslimbrüder mit ihrer FJP Bündnispartner suchen werden. Sie könnten ein ideologisches Bündnis mit den Salafisten eingehen oder aber ein pragmatisches mit Teilen des liberalen Lagers.
Islamisten brauchen Touristen
Kurz vor der Wahl hatte Essam Erian, eines der führenden Mitglieder der Muslimbruderschaft, die Salafisten noch als "eine Belastung für jede Koalition" bezeichnet. Nach den ersten beiden Wahlgängen sind die Muslimbrüder vorsichtiger geworden und schließen in guter demokratischer Politikermanier inzwischen keinen Koalitionspartner mehr aus noch ein, bis die Wahlen zu Ende sind.
Aber es werden jenseits der innerislamistischen Konkurrenz zu den Salafisten wahrscheinlich Sachzwänge sein, die die Muslimbrüder in Richtung liberales Lager treiben werden. Vier von zehn Ägyptern mussten schon zu Mubaraks Zeiten mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen. Eine Situation, die sich mit der Revolution nicht verbessert hat. Jeder zehnte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Das Land muss dringend den durch die Revolution eingebrochenen Tourismus wiederankurbeln.
Und anders als Saudi-Arabien hat Ägypten keine großen Ölvorkommen, sondern hängt von ausländischen Investitionen ab, die seit dem Sturz Mubaraks und den folgenden Zeiten der politischen Ungewissheit gegen null gehen. Kapital aus dem Golf kann diese Lücke alleine nicht schließen. Der Spielraum für islamistische Experimente ist also begrenzt.
Insofern muss sich auch die Muslimbruderschaft neu erfinden. Die internen Debatten dazu laufen schon länger, vor allem mit der Parteijugend. Jetzt auch noch politische Verantwortung zu bekommen dürfte die Muslimbrüder eher in die politische Mitte rücken.
Immer mehr Gewerkschaften
Wer immer Ägypten in den nächsten Monaten politisch anführt, hat es mit drei Herausforderungen zu tun. Erstens müssen die Militärs in der Politik zurückgedrängt werden. Das wird zu großen Konflikten führen.
Die zweite große Herausforderung ist die soziale Frage. Seit dem Sturz Mubaraks haben sich mehr als 90 Gewerkschaften gegründet. Das Land wurde in den letzten Monaten von einer noch nie da gewesenen Streikwelle überzogen, nicht nur der Arbeiter in den Staatsbetrieben, sondern auch der Staatsbeamten.
Während man im Westen darüber brütet, wie sich mit den politisch starken Islamisten das Verhältnis zwischen Religion und Staat in der arabischen Welt neu definieren wird, sind für die Mehrheit der Ägypter Arbeitsplätze, Löhne, Preise, Arbeits- und Wohnbedingungen das brennendste Problem. Bisher haben die Muslimbrüder darauf keine Antworten gefunden, und es ist wahrscheinlich, dass sich die massiven wirtschaftlichen und sozialen Probleme Ägyptens nur in Zusammenarbeit mit Islamisten, Liberalen und Linken lösen lassen werden.
Zwar hat die FJP nach bisherigen Wahlergebnissen die Hälfte der Sitze gewonnen, aber sie wird sich in dieser Situation hüten, die alleinige politische Verantwortung zu übernehmen. Und das bringt uns zur dritten und wahrscheinlich größten Herausforderung für die, die das Land politisch verwalten werden - egal ob Islamisten, Liberale oder eine Koalition aus beiden: Sie haben es inzwischen mit einer hochgradig politisierten und engagierten Bevölkerung zu tun, die nicht tatenlos vier Jahre bis zu den nächsten Wahlen warten wird, bis sich etwas getan hat, sondern die gelernt hat, wie sie ihre Angelegenheiten auf der Straße und durch Streiks vorantreiben können.
Ein großer Teil der Ausrichtung des Landes wird auch weiterhin nicht im Parlament, sondern auf der Straße ausgehandelt werden.
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